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276 Julie Kalman
auf eine Parteinahme zu verzichten«20. Das Blatt kritisierte den prominen-
ten jüdischen Anwalt Adolphe Crémieux, der behauptet hatte, die Damasze-
ner Juden seien des Mordes unschuldig. Wie anders wolle man sich den Fall
erklären? »Will man beweisen, dass es nicht die Juden waren, die Pater Tho-
mas auf raffinierte Weise erwürgt haben«, bemerkte La Quotidienne neben-
bei auch noch die Umstände des angeblichen Mordes erfindend, »wird man
entweder die Muslime oder die Christen beschuldigen müssen. Es ist dies
eine traurige Alternative. Herr Crémieux wird uns gewiss die Behauptung
gestatten, dass es nicht die Christen waren, die Pater Thomas erwürgten«21.
Im Übrigen: Pater Thomas verschwand, ohne dass je eine Leiche oder sons-
tige Spur von ihm entdeckt worden wäre. Etwaige Geständnisse, die sich auf
seinen Tod oder dessen Umstände beziehen, wurden unter Folter geäußert.
Die Zeitungen stritten sich auch untereinander. Die legitimistische Quo-
tidienne verstand unter Unparteilichkeit etwas andres als L’ Univers, und die
beiden Blätter ließen keine Gelegenheit verstreichen, sich gegenseitig ihre
Schwächen vorzuhalten. Als die Redakteure der Quotidienne sich von ihren
Kollegen beim Univers als »schlechte Christen« verunglimpft sahen, antwor-
teten sie, L’ Univers »täte gut daran, uns keine Juden zu heißen, möchten wir
doch auf Gewalt oder Vergeltung verzichten«22. Beide Zeitungen waren sich
jedoch einig, dass die Anschuldigungen ihre Plausibilität aus dem Schauplatz
Damaskus gewannen. Selbst dem verstocktesten Legitimisten wäre es schwer-
gefallen, die seit nunmehr beinahe 50 Jahren emanzipierten Juden Frank-
reichs des Meuchelmords an einem Priester und dessen Gehilfen zu bezich-
tigen. Auch L’ Ami de la Religion et du Roi musste zugeben, den heimischen
Juden habe es genutzt, lange Zeit der europäischen Kultur ausgesetzt gewe-
sen zu sein; es habe dies schließlich »ihre Sitten gemildert«23. In Frankreich
mochte der Ritualmord also der Vergangenheit angehören. Dass er anderswo
noch geschah, etwa im so rätselhaften wie rückständigen Orient, glaubten
diese Zeitungen hingegen gerne. Ihre eigene christliche Zivilisation hoben
sie damit von einem entfernten Andren ab, von einer Weltgegend, wo, wie
L’ Univers berichtete, alle Religionen »mit dem größten Fanatismus« ausgeübt
würden. Dort pflegten denn auch die Juden, die ihren europäischen Gevat-
tern »im Wissen und in allen sittlichen Vorstellungen um 500 Jahre hinter-
her« lägen, weiterhin »die Sitten und die ganze Barbarei ihrer Urahnen«24.
20 La Quotidienne, 7. Mai 1840.
21 Ebd., 9. April 1840.
22 La Quotidienne, 11. Mai 1840.
23 L’ Ami de la Religion et du Roi, 11. Juni 1840.
24 L’ Univers, 5. Juli 1840.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918