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284 Julie Kalman
repräsentativen Institutionen fußte. Seinen Verächtern galt dies als ein durch
und durch bürgerliches Regime: säkular, materialistisch und individualis-
tisch. Mit der Revolution von 1830 zerstoben sich die Hoffnungen vieler
Katholiken. Aus den Ultra-Royalisten, die während der Restaurationszeit an
der Macht gewesen waren, wurden Legitimisten, die auf eine Rückkehr der
Bourbonen hofften. Es war diese Nostalgie, die Sehnsucht nach einer ideali-
sierten Vergangenheit, welche die katholischen Redakteure und Leser von La
Quotidienne, L’ Univers and L’ Ami de la Religion et du Roi glauben ließ, eine
mittelalterliche Anschuldigung gegen Juden könne noch von Belang sein56.
Tatsächlich setzte sich die Damaskus-Affäre in Frankreich tief im öffent-
lichen Bewusstsein fest. 1842 beklagte sich ein Autor der jüdischen Zeitung
Archives Israélites bitterlich über »Freunde«, die während »der traurigen Epi-
sode von Damaskus« gesagt hätten, und zwar »unter einem Lachen, vor dem
sich die Seele empört: ›Ich möchte nicht mit ihnen Speisen, fürchte ich doch,
sie servierten mir ein Pater-Thomas-Kotelett!‹ «57 In der Parlamentswahl
1863 stellte sich der prominente jüdische Bankier Isaac Pereire im Wahlkreis
Pyrénées-Orientales gegen den klerikal orientierten Mandatsträger Justin
Durand. Die politischen Gegner des Kandidaten Pereire bedienten sich anti-
semitischer Propaganda, darunter Verweise auf die Damaskus-Affäre, um
ein verheerendes Bild von dem zu zeichnen, was im Falle der Wahl eines
Juden zu erwarten wäre58. Wiederum gut zwei Jahrzehnte später, im April
1881, zitierte die halboffizielle vatikanische bzw. jesuitische Zeitschrift
Civiltà Cattolica aus dem Werk De l’ harmonie entre l’ église et la synagogue
von David Drach, um die Richtigkeit der Anklage gegen die Damaszener
Juden von 1840 zu belegen.
Obschon also die Affäre nicht zu unmittelbarer physischer Gewalt gegen
Juden in Frankreich führte, legte sie doch den Grundstein für zukünftige
Probleme. Dass französische Juden ihre Glaubensgenossen im Ausland
unterstützten, denen man einen gewaltsamen Hass gegen Christen unter-
stellte, der in tatsächliche Gewalt umschlagen könne, nahm die französi-
schen Juden gleichsam in Sippenhaft. Mochten diese auch keine Ritualmorde
mehr begehen, so hielten sie doch am selben gewaltsamen Hass fest, der sich
nur auf andere und womöglich gefährlichere Weise bahnbrach. Die katho-
lische Überzeugung von der Richtigkeit der Ritualmordvorwürfe sowie
die Beschuldigungen französischer Juden ob ihrer angeblich parteilichen
56 Vgl. Darrin McMahon, Enemies of the Enlightenment. The French Counter-
Enlightenment and the Making of Modernity, New York 2001, S. 156.
57 Les Archives Israélites, März 1842, zitiert nach Maximilien Charles Alphonse
Cerfberr de Medelsheim, Ce que sont les Juifs de France, Straßburg 1843, S. 111.
58 Vgl. Helen Davies, Emile and Isaac Pereire. Bankers, Socialists and Sephardic Jews
in Nineteenth-Century France, Manchester 2015, S. 206f.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918