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285Französisch-katholische
Reaktionen auf die Damaskus-Affäre
Haltung erlaubten Katholiken, sich endlich wieder als Herz der Nation zu
betrachten – und in einer metaphorischen Gewalthandlung die Juden aus
ebendiesem Herzen zu vertreiben.
Im Gefolge der Damaskus-Affäre häuften sich Berichte über Reichtum
und Macht der Juden. Das Verschwinden Pater Thomas’ und seines Dieners
bildete einen Brennpunkt und möglicherweise sogar den Ausgang solcher
Kritik, ganz so, als erlaubte die Gewalt der Vorgänge in Damaskus eine
ebenso heftige Gewalt in der von ihnen ausgelösten Rhetorik. Auch fiel in
die frühen 1840er Jahre ein Erstarken katholischer Bemühungen, Konverti-
ten unter französischen Juden zu gewinnen, insbesondere in Paris. Thomas
Kselman zieht hier eine Verbindung zur Damaskus-Affäre, habe diese doch
»verstärkte Aufmerksamkeit auf jüdische Gemeinden und deren religiöse
Praktiken gelenkt«59. Derselbe Autor hat auch die »öffentliche Diskussion«
nachgezeichnet, die um die Konversion zum Katholizismus des Dr. Lazare
Terquem auf dem Krankenlager durch Théodore Ratisbonne, einen ehemals
jüdischen Priester, entbrannte60. Terquem war als Arzt und prominentes
Mitglied der jüdischen Gemeinde bekannt und geachtet. Seine Frau und
seine Töchter waren bereits konvertiert, und sie waren es auch, die Ratis-
bonne an das Bett des Sterbenden luden. Über die Umstände seiner Taufe
kursierten widersprüchliche Berichte; auf jeden Fall aber sorgte sie für Span-
nung zwischen der jüdischen und der katholischen Gemeinde. Das jüdische
Konsistorium, das sich der zu bestattenden Leiche Terquems beraubt fühlte,
beschwerte sich beim Ministerium für Justiz und Religionsfragen über das
Verhalten Ratisbonnes und der Kirche insgesamt. Der Minister nahm sich
der Sache an, auch wenn er davon absah, das überaus herablassende Ant-
wortschreiben weiterzugeben, das er von Erzbischof Denys Affre erhielt.
Der Kirchenobere ließ an seiner Haltung zum Judentum keinen Zweifel und
schloss, indem er die umstrittene Taufe in einen Zusammenhang mit jüdi-
schen Angriffen auf die Kirche stellte: »Während die Israeliten mit Bezug
auf Herrn Terquem einen chimärischen Angriff beklagen, bin ich überzeugt,
dass sie selbst sich schwerer Kränkungen des Katholizismus schuldig machen,
indem sie am Karsamstag öffentliche Maskenbälle veranstalten – und dies
mit Genehmigung der Polizei«61. Abermals zeigte sich, wie in einem »richti-
gen« katholischen Frankreich dem Juden der Rang des Anderen zukam.
59 Thomas Kselman, Turbulent Souls in Modern France. Jewish Conversion and the
Terquem Affair, in: Historical Reflections / Réflexions historiques 32 (2006), H. 1,
S. 94. Ich habe diese Argumentation an anderer Stelle weiter ausgeführt; siehe auch
Kalman, Rethinking Antisemitism, S. 90–127.
60 Vgl. Kselman, Turbulent Souls, S. 100; ders., Conscience and Conversion,
S. 105–110.
61 Archiv der Erzdiözese Paris, 4r F7 (Briefwechsel Affre), 1:147f., Brief vom 22. März
1845. Zitiert nach Kselman, Turbulent Souls, S. 100.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918