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300 Mary Vincent
deines Lebens verzehren soll.
[…] Doch wird er dir mehr Demütigungen und
Leiden bringen als Erleichterung«35.
Alacoque, auch die »heilige Margareta Maria«, war eine beispielhafte
»Opferseele«36. Der von ihr begründete Kultus lud ein zur Teilnahme an den
Leiden Christi, mit der Kreuzigung als dem ultimativen Sühne- und Erlö-
sungsopfer. Die somatische, affektive Spiritualität, die dem zugrunde lag,
war eine weibliche, und der Aufruf zu stellvertretendem Leiden – besonders
im von Alacoque versinnbildlichten heroischen Ausmaß
– war entsprechend
codiert37. Beide fußten auf Verkörperung, nicht nur im körperlichen, fleisch-
lichen Leiden, sondern auch in der Kontemplation des fleischgewordenen
Gottes. Alacoque hatte überdies den Leib Christi nicht bloß angeschaut,
sondern war in ihn eingedrungen, hatte sein Herz hervorgeholt und seinen
Schmerz an ihrem eigenen Fleisch erlebt. Ihre visionären Erfahrungen waren
performativ; sie nahm Anteil an der Passion Christi, weil das Leiden ein Mit-
tel war, persönliches Wissen von Gott zu erlangen. Aus der Leidenden wurde
ein »Alter-Christus« und ihr Schmerz, weil gottgefällig, wirkte erlösend38.
Dieselben Motive
– womöglich gar dasselbe Skript
– sind in der Geschichte
des jungen Jesuitenpaters Bernardo de Hoyos (1711–1735) zu erkennen, des
spanischen »Propheten des Herzen Jesu«. Sie wurde erst bekannt, als sein
Lebensbild vom Jesuiten Eugenio de Uriarte (1842–1909) redigiert und veröf-
fentlicht wurde39. Die Visionen de Hoys scheinen der Zeit Uriates noch ange-
messener als seinen eigenen Lebzeiten zu sein. Berühmt wurde die »große
Verheißung« vom Mai 1733, bei der er das Herz Jesu erblickt und die Worte
vernommen habe: »Ich werde in Spanien regieren, und dort wird mir größere
Verehrung zuteil denn irgendwo sonst«. Seit den 1880er Jahren dienten diese
Worte als Fanal der »sozialen Herrschaft Jesu Christi«, der integralistischen
Vision, der zufolge die Kirche wieder in ihr »Recht« zu setzen und der Primat
der Religion in Gesellschaft, Politik, Moral und Kultur – kurzum, in allen
Lebensbereichen – zu gewährleisten sei40.
35 [Autor unbekannt] (Hg.), Heilige Margareta Maria Alacoque. Leben und Offenba-
rungen von ihr selbst geschrieben und ergänzt durch Zeitgenossen, Fribourg 31984,
S. 76; vgl. Aviad Kleinberg, Flesh Made Word. Saints’ Stories and the Western
Imagination, Cambridge MA 2008, S. 110f., 122–124; Morrison, Strange Miracles,
S. 134.
36 »Victim soul«, so eine Kapitelüberschrift in einer englischen Fassung der Autobio-
graphie; Vincent Kerns (Hg.), The Autobiography of St Margaret Mary, London
1961, S. 57–64.
37 Vgl. Burton, Holy Tears, Holy Blood, S. 73–55, 197–204, 247–250; Wright, Inside
My Body, S.
186–168; siehe auch Caroline Walker Bynum, Holy Feast and Holy Fast.
The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley 1987.
38 Vgl. Wright, Inside My Body, S. 188.
39 José Eugenio Uriarte SJ (Hg.), Vida del P. Bernardo de Hoyos, de la Compañia de
Jesús, Bilbao 1888.
40 Vgl. Cano, Reinaré en España, S. 29–101.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918