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302 Mary Vincent
Ekstasen widerfahren seien, war nunmehr »das lebendige Tabernakel der
göttlichen Anbetung«46. Im Fall de Hoyos’ wie in dem Alacoques wurden
visionäre Erfahrungen zu einem Modus religiöser Praxis externalisiert,
obschon ihre Geschichten dazu beitrugen, in der Herz-Jesu-Verehrung eine
somatische und sinnliche weibliche Spiritualität festzuschreiben, die in der
ekstatischen Kommunion mit dem Leib Christi aufging. Tatsächlich war es
das Vorhandensein solcher Erzählungen, das de Hoyos ermöglichte, dem
Beispiel Alacoques so getreu zu folgen – und beiden erlaubte, überhaupt frü-
here Mystiker nachzuahmen. Aufgabe der Hagiographie ist nicht bloß, der
Heiligen zu gedenken oder ihr geistliches Leben aufzuzeichnen, sie dient
auch dazu, sie durch Textualisierung zu zähmen, »die gefährlichen wirkli-
chen Heiligen umzuformen und sie in Übereinstimmung mit hergebrachten
Vorbildern der Heiligkeit zu bringen«47.
Zwar blieb die Komplexität dieser Erzählungen in den Texten erhalten,
womit sie jenen zur Verfügung standen, die sich der Mühe einer genauen
Lektüre unterzogen. Aviad Kleinberg weist jedoch darauf hin, dass eine neue
Heiligsprechung stets neue Erwartungen und Normen der Verehrung mit
sich bringt. Es ist kein Zufall, dass die Seligsprechung Alacoques 1864 dem
Kultus des Heiligsten Herzens einen neuen Schub gab und auch die Vereh-
rung ihrer selbst auf eine neue Ebene hob. Im Jahr darauf wurde ihre Leiche,
die im Kloster der Salesianerinnen bestattet lag, in der Kapelle zu Paray-le-
Monial ausgestellt48. Im selben Jahr widmete Pius IX. die dortige Prioratskir-
che zur Herz-Jesu-Basilika um. Schon im Juni 1873 hatten organisierte Wall-
fahrten begonnen, die unter jesuitischer Leitung bis 1878 andauerten. Sie
waren auf die »Kapelle der Erscheinungen« fokussiert und boten ein Erlebnis
sinnlicher Vertiefung, das »tiefe Gefühle« hervorrufen sollte49. In der Kapelle
wiederum drehte sich alles um den gläsernen Sarkophag Alacoques, den mit
Rosenkränzen und anderen Devotionalien zu berühren Pilger ermuntert
wurden. Es überrascht demnach wenig, dass die Wallfahrten nach Paray mit
der Zweihundertjahrfeier des Todes Alacoques einen zweiten Höhepunkt
erreichten. Zwischen 1889 und 1901 erreichte die Zahl der Pilger ein mit
den 1870er Jahren vergleichbares Niveau. Einen weiteren Schub brachte der
zehnte Eucharistische Weltkongress, der 1897 in Paray abgehalten wurde50.
46 Guillermo Ubillos SJ, Vida del P. Bernardo F. de Hoyos de la Compañía de Jesús.
Segundo centenario, 1735–1935, Madrid, 1935, S. 115.
47 Kleinberg, Flesh Made Word, S. 138.
48 Vgl. Jonas, France and the Cult, S. 9–12.
49 Vgl. Philippe Boutry / Michel Cinquin, Deux pèlerinages au XIXe siècle. Ars et
Paray-le-Monial, Paris 1980, S. 171–299, hier S. 204; siehe auch William Whyte,
Unlocking the Church. The Lost Secrets of Victorian Sacred Space, Oxford 2017,
S. 65–94.
50 Vgl. Boutry / Cinquin, Deux pèlerinages, S. 198–206, 247; Michael Williams, The
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918