Page - 304 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
Image of the Page - 304 -
Text of the Page - 304 -
304 Mary Vincent
einen Weg, über diese Sühneleistungen Buch zu führen und die vor Gott
angehäufte Schuld abzutragen. Der Kultus übernahm auch aus den Kirchen
und Heiligtümern des ländlichen Europas vertraute Andachtspraktiken und
modernisierte sie über das Gebetsapostolat – einer Bruderschaft, die sich
gemeindeweise organisierte – und seiner Monatsschrift, dem Sendboten des
Göttlichen Herzens Jesu.
Unter dem Namen Messager du Cœur de Jésus war die Zeitschrift 1861
erstmals in Frankreich erschienen; sie wurde in 35 Sprachen und 45 Ländern
verbreitet, stets unter jesuitischer Schriftleitung. In Spanien erschienen ab
1866 Übersetzungen aus der französischen Stammausgabe; 1883 wurde da-
raus eine eigenständige jesuitische Zeitschrift55. Wie andere Ausgaben auch
enthielt jede Nummer eine Art »Schatzkästlein«, in dem Handlungen aus
Liebe, Langmut oder Selbstentsagung ebenso aufgezählt waren wie gebetete
Rosenkränze, gehörte Messen und andere Beispiele von den Lesern geleis-
teter alltäglicher Frömmigkeit. Zusammengerechnet konnte eine einzige
Nummer hunderttausende solcher Handlungen verzeichnen und legte damit
Zeugnis darüber ab, dass, wie es die kirchliche Orthodoxie lehrte, Gnade
verdient und Erlösung erarbeitet werden konnten. Losgelöst von der geogra-
phischen Beschränkung auf spezifische Bildnisse und Heiligtümer etablierte
sich durch diese Andachten und geistlichen Opfer eine »Heilsökonomie«,
die auf Gelübde und Fürbitte gebaut war56. Im Gegensatz zum Denken de
Mais tres, wo Forderungen im Rahmen dieser Heilsökonomie in Blut zu
begleichen waren, setzte die Verehrung des Heiligsten Herzens auf Gesten
der Sühne und fromme Taten kleinen Stils, in der Regel der Abtötung. Mit
diesen mechanischen Praktiken verbreitete sich jedoch durch die ganze
katholische Gesellschaft hindurch eine Vorstellung stellvertretender Gewalt
als dem hauptsächlichen Mittel zur Wiedergutmachung. Das Wesen der
Herz-Jesu-Verehrung verstärkte folglich die augustinische Betonung einer
verderbten und sündigen Welt und vermittelte zu deren Überwindung eine
Opfervorstellung, die wiederum mit jener de Maistres kompatibel war.
Durch den Sendboten wurde das Herz Jesu zum bekanntesten christolo-
gischen Kultus in der katholischen Welt. Im Gegensatz zu seinen Seherin-
nen und Sehern betonte der Kultus gewöhnliche, wenig aufsehenerregende
Handlungen, deren schiere Menge eine Heiligung der Welt verhieß. Seine
Allgegenwart machte den Kultus zu einem mächtigen Instrument einer inte-
gralistischen Weltanschauung, während die Betonung nicht nur der Leiden,
sondern besonders der Wunden, die das Herz Jesu erlitten hatte, einer katho-
lischen Kultur, die bereits »vor erlösendem Blut troff«, einen christologischen
55 Die Auflage betrug 1915 16 000–17 000 Exemplare; die Zahl der Leser muss wesent-
lich höher angesetzt werden.
56 Vgl. Jonas, France and the Cult, S. 9–33.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918