Page - 311 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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311Gewalt,
Religion und Gegenrevolution in Spanien
Zeit und menschlicher Vernunft. Der Kampf gegen das Böse sei unendlich;
die Worte der Jungfrau Maria enthielten ewige Wahrheiten.
Dem Ruhm Lourdes’ zum Trotz blieben die allermeisten endzeitlichen
Visionen und »wundersamen« Ereignisse Randerscheinungen, selbst wenn
sie nicht von der Kirche verurteilt wurden. Wenn sie mehrheitsfähig wer-
den sollten, dann mussten sie nicht nur an die Volksfrömmigkeit appellieren,
sondern auch unter Kontrolle gebracht werden. Selbst wenn, wie etwa Paray,
ein Wallfahrtsort klar mit der Gegenrevolution verbunden wurde, musste
die Theologie doch orthodox bleiben. Im Doktrinären bedeutete dies, ins-
besondere im Gefolge der Enzyklika Aeterni Patris (1879), den Vorrang des
Thomismus. Vom Vatikan gutgeheißene Lehren wie jene des »kleineren
Übels« setzten sich zunehmend durch. Doch behauptete die Kirche unver-
ändert den Primat der religiösen Werte und erlaubte dem Integralismus so,
weiterhin sichtbar zu bleiben.
In der etablierten Politik blieb der Legitimismus zwar eine Minderheits-
position, doch in der Kultur der Volksfrömmigkeit war der Integralismus
vorherrschend. Codiert als Büßertum und Herz-Jesu-Verehrung überlebte
die augustinische Reaktion als unterschwellige Kraft in der europäischen
Politik. Dem Verdacht des politischen Integralismus zum Trotz wurde die
Herz-Jesu-Verehrung vom Vatikan gebilligt und von der Gesellschaft Jesu
unermüdlich propagiert. Heilige waren oft – und Mystiker ausnahms-
los – Unruhestifter, doch gelang es der amtskirchlichen Frömmigkeit, ihre
Geschichten dahingehend zu zähmen, dass Grundvorstellungen von Buße
und Sühne jedermann zugänglich gemacht wurden. Diese Normalisierung
der Opfergewalt und ihre Einbeziehung in die alltägliche Andachtspraxis
von Millionen Katholiken hieß nicht nur, dass die augustinische Reaktion
überlebte, sondern auch, dass sie in äußerster Not, wie in den 1930er Jahren,
mobilisierbar blieb. Diese Vorstellungen, die um stellvertretende Gewalt als
Garant des Gemeinwohls kreisten, spielten eine entscheidende Rolle in der
Verwandlung gesellschaftlich-politischer Konflikte in einen Religionskrieg
(oder Kreuzzug). Es bedurfte nur der entsprechenden Umstände, wie sie
dann 1936 gegeben waren. Nur durch das Opfer Christi war die Menschheit
zu erlösen, deren sündige Natur die gewaltsame Zügelung zwingend, Unter-
drückung notwendig machte71.
In krisenhaften Augenblicken fand die augustinische Betonung der
Erbsünde – auf der die Vorstellungen von Buße fußten, die den Kern des
Legitimismus bildeten – echte Resonanz. Inzwischen waren solche Vor-
stellungen wohlvertraut geworden, waren sie doch in den Diskurs des inte-
gralistischen Katholizismus eingebettet und das 19. Jahrhundert hindurch
wiederholt worden. Stets betonten die Widersacher, ihr Kampf sei binärer
71 Vgl. Burton, Blood in the City, S. 102–104.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918