Page - 343 - in Glaubenskämpfe - Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
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343Die
Wandlungen im Verhältnis von Glaube und Gewalt
es, wie das Beispiel von den katholisch-muslimischen Konflikten in Melilla
bezeugt, weniger um theologisch festgelegte als um religiös aufgeladene Res-
sourcen ging. Zeigt dieser Band demnach, trotz Engführung auf Katholiken
und das 19. Jahrhundert, die Vielzahl von möglichen Erklärungen für das
Verhältnis von Glaube und Gewalt, wird klar, dass viele eher linear gedachte
Theoretisierungsversuche unzureichend sind, um die lokalen Spezifika von
Gewaltkulturen zu ermitteln. Vielmehr scheinen religionsbezogene Gewalt-
praktiken und -semantiken das Resultat eines sozialen Prozesses gewesen zu
sei, der sich zwar stark an religiösen Elementen orientieren konnte, dennoch
aber immer mit säkularen Differenzkategorien zusammenhing.
Bleibt noch die Frage, warum religionsbezogene Konflikte, die mit Gewalt
ausgetragen oder deren gewaltsames Auftreten semantisch vorbereitet
wurde, im 19. Jahrhundert keinen neuen »Religionskrieg« hervorbrachten.
Wenn an dieser Stelle auch keine eindeutige Antwort möglich ist, so gibt es
doch Faktoren, die dazu beigetragen haben dürften, Spannungen einzuhe-
gen. Erstens gab es das Erbe der frühneuzeitlichen Religionsfrieden, die weit
in die Neueste Geschichte hinein nicht nur Regelungen für das konfessionell-
religiöse Miteinander schufen, sondern auch ein Rahmenwerk für das Ver-
hältnis von Politik und Religion bildeten, indem staatlicher und kirchlicher
Raum klarer umrissen und voneinander getrennt wurden. Eine politische
Vereinnahmung religiös-weltanschaulicher Differenzen war aufgrund der
seitdem verstärkt geltenden Vormachtstellung des Staates schwieriger und
auch wenig sinnvoll; damit war eine treibende Kraft hinter den »Religions-
kriegen«, d.h. die staatliche Autorität, weniger zum Polarisieren geneigt. Die
proaktive Haltung des modernen Staates, insbesondere der Aufbau eines
Bürokratieapparats, der gesellschaftlichen Unfrieden eher bemerken und
ihm dann entgegentreten konnte, kann als weitere Hürde gegen die Ent-
gleisung religionsbezogenen Unmuts gelten. Ein dritter Faktor ist die ver-
mehrte Umorientierung von Gewaltkulturen auf säkulare Streitigkeiten, mit
der Nation als zentralem Entzündungsfaktor. Überspitzt gesagt traten Aus-
einandersetzungen um die nationale Identität und ihre politische Form an
die Stelle religiös gelagerter Konflikte, waren aber weiterhin eng mit Fragen
religiöser Zugehörigkeit und Kultur verbunden9. Überdies gab es eine geo-
graphische Verlagerung von Gewaltkulturen in die imperial oder kolonial
besetzten Gebiete; die »Pazifizierung« des religiösen Europas ging mit einer
9 Für die Verbindung von Nation und Religion im 19. Jahrhundert, siehe auch Urs
Altermatt / Franziska Metzger (Hg.), Religion und Nation. Katholizismen im
Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007; Martin Geyer / Hartmut Leh-
mann (Hg.), Religion und Nation. Nation und Religion, Göttingen 2004; Heinz-
Gerhard Haupt / Dieter Langewiesche (Hg.), Nation und Religion in Europa,
Frankfurt 2004; Martin Schulze-Wessel (Hg.), Nationalisierung der Religion und
Sakralisierung der Nation im östlichen Europa, Stuttgart 2006.
Glaubenskämpfe
Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Title
- Glaubenskämpfe
- Subtitle
- Katholiken und Gewalt im 19. Jahrhundert
- Editor
- Eveline Bouwers
- Publisher
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-10158-8
- Size
- 15.9 x 23.7 cm
- Pages
- 362
- Keywords
- 19. Jahrhundert, katholische Kirche, Gewalt, Legitimation, Glaube, Katholizismus, historische Entwicklung, Säkularisierung, Pluralismus, historische Analyse, Geschichtsschreibung, strukturelle Gewalt, Diskurs
- Categories
- Geschichte Vor 1918