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22 I. Einleitung
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Wissensdisziplin entscheidend beitrug. Gleichzeitig kam es zu einem
Vorgang, den Michel Foucault als » Einpflanzung von Perversionen « 74
bezeichnet: Jene Erscheinungsformen des Sexuellen, die vormals als
abweichende sexuelle Handlungen verstanden und pönalisiert worden
waren, wurden nun zum Kennzeichen abweichender sexueller Identitä-
ten. In den Mittelpunkt des Interesses rĂĽckten die kindliche Sexuali-
tät, der weibliche Körper, Geburtenkontrolle und die Klassifizierung
» perverser « Sexualitäten.75 Dass, einhergehend mit der Pathologisie-
rung der gleichgeschlechtlichen Sexualität, das » Wissen « um derlei
Dinge anwuchs, zeigte auch rechtspraktische Auswirkungen. Obwohl
der Straftatbestand der widernatĂĽrlichen Unzucht in seinem Wortlaut
keinerlei Änderung erfuhr, wurden im Verlauf des 19. und 20. Jahrhun-
derts immer weitere gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen als tatbe-
standsmäßig » erkannt «, immer mehr deviante Subjekte gerieten in den
Blick der verfolgenden Instanzen. Konnte Hartl fĂĽr den Zeitraum zwi-
schen der Aufklärung und der österreichischen Revolution 1848 noch
konstatieren:
» Die liberale Haltung der Strafrichter findet bei diesem Verbre-
chen [ gleichgeschlechtliche Unzucht ] den nachhaltigsten Aus-
druck. In kursorischen Referaten wurden diese Delikte abgetan,
ohne darin ein besonders verwerfliches erhalten oder groĂźen
Unrechtsgehalt zu erblicken «,76
stieg zum einen die Anzahl der Beschuldigten im ausgehenden 19. und
beginnenden 20. Jahrhundert an, zum anderen dehnte die Rechtspre-
chung den Straftatbestand ständig weiter aus. Handlungen, die bis-
lang keine strafrechtliche Verfolgung ausgelöst hatten, wurden nun
als gleichgeschlechtliche Unzuchtsakte angesehen. Während nach der
älteren Rechtsprechung etwa nur päderastische,77 nicht aber mastur-
batorische Handlungen den Tatbestand des § 129 I b StG 1852 erfüllten,
stufte der Kassationsgerichtshof ab 1902 jede unzĂĽchtige Handlung mit
einer Person desselben Geschlechtes als tatbestandsmäßig ein, auch
74 Foucault Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 ( 1977 ) 50.
75 Vgl Raab Heike, Foucault und der feministische Poststrukturalismus ( 1998 ) 52.
76 Hartl Friedrich, Das Wiener Kriminalgericht. Strafrechtspflege vom Zeitalter der
Aufklärung bis zur österreichischen Revolution ( 1973 ) 357.
77 So etwa OGH 842, 963, 1053, 1215. Siehe auch Altmann Ludwig / Jacob Siegfried, Kom-
mentar zum Ă–sterreichischen Strafrecht I ( 1928 ) 339.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik