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Theoretische Verortung
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
wenn sie am bekleideten Körper geschah.78 Diese erweiterte Auslegung
beruhte auf dem nunmehr vorhandenen sexualwissenschaftlichen
Wissen, das sowohl in die Rechtsprechung als auch in die Rechtslehre
Eingang fand. So hielt etwa Stooss in der zweiten Auflage seines Lehr-
buchs des österreichischen Strafrechts ausdrücklich fest, neuere sexu-
alwissenschaftliche Forschungen hätten ergeben, dass » Homosexuelle
die Päderastie in der Regel nicht durch beischlafähnliche Handlungen
ausüben. « 79 Die Erweiterung der Tatbestandsauslegung bei der gleich-
geschlechtlichen Unzucht erhielt zwar wesentliche Impulse durch die
sexualwissenschaftliche Forschung, sie war in Ă–sterreich aber in ganz
wesentlichem AusmaĂź auch der Rechtstradition mit ihrer Strafbarkeit
fĂĽr beide Geschlechter geschuldet.80
Foucaults Thesen rücken juridische Diskurse über » widernatürliche
Akte « sowie sexualwissenschaftliche Diskurse über die in diesen Akten
entdeckten » abnormalen Sexualitäten « in den Mittelpunkt. Der diszip-
linierende Effekt, den vor allem medizinische und sexualwissenschaft-
liche Erkenntnisse auf die Sexualität hatten, darf gleichwohl nicht über-
schätzt werden – weder vermochten sie die Diskurse der Betroffenen
selbst gänzlich zum Verstummen zu bringen, noch konnte die Konst-
ruktion sexueller Kategorien ohne deren Beteiligung erfolgen.81 Ohne
die Bereitschaft sozialer Akteure und Akteurinnen, der Medizin ihre
autobiographischen Erzählungen zur Verfügung zu stellen, und ohne
das Forum, das die Medizin den » Perversen « bot, wäre die Medikalisie-
rung nicht möglich gewesen:
» Die Konstruktion der modernen sexuellen Identitäten erfolgte
in einem sozialen InteraktionsprozeĂź zwischen Individuen, die
über sich selbst nachdachten, und Ärzten, die die Psychiatrie
gestalteten und die Perversionen der medizinischen Zuständig-
keit unterstellten. « 82
Doch nicht nur medizinisches Interesse, sondern auch eine drohende
Verurteilung wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht konnte den Aus-
schlag geben, ĂĽber sich selbst nachzudenken. Gerichtsverfahren boten
78 E vom 12. September 1902, KH 2747.
79 Stooss Carl, Lehrbuch des Ă–sterreichischen Strafrechts 2 ( 19913 ) 462, Fn 2.
80 Dazu ausfĂĽhrlich Kapitel II.
81 Vgl Oosterhuis Harry, » Plato war doch gewiss kein Schweinehund «. Richard von
Krafft-Ebing und die homosexuelle Identität, ÖZG 1998, 358 ( 362 ).
82 Oosterhuis Harry, Ă–ZG 1998, 379 f.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik