Page - 61 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Image of the Page - 61 -
Text of the Page - 61 -
61
Das Strafgesetz 1852
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
unter auch jede andere Art geschlechtlichen Missbrauchs.233 Noch ent-
schiedener trat Hugo Hoegel für eine Ausdehnung des Straftatbestandes
ein und kritisierte sowohl die deutsche 234 als auch die österreichische
Rechtsprechung und ihre Einschränkung auf beischlafähnliche Hand-
lungen als zu eng. Alle Fälle der gleichgeschlechtlichen Unzucht, von
der Päderastie bis zur gegenseitigen Selbstbefriedigung seien unter
Strafe zu stellen. Bloße Umarmungen oder Küsse wollte Hoegel nicht
bestraft wissen, obwohl sie ihm in dieser Verbindung gleichfalls » wi-
derlich « erschienen.235 Ähnlich weit interpretierte Senft den Tatbestand
des § 129 I b StG 1852, enthielt sich jedoch » gegenüber der Autorität
des obersten Gerichtshofes « 236 einer allzu scharfen Kritik. Gegen eine
Einschränkung des Tatbestandes auf Beischlaf oder beischlafähnliche
Handlungen sprach sich auch Maximilian Winkler aus: Das Verbrechen
der Unzucht wider die Natur könne durch unzüchtige Handlungen al-
ler Art begangen werden. Keineswegs verlange das Gesetz, » daß ein bei-
schlafsähnlicher Act stattgefunden oder daß es der Thäter auf Befrie-
digung des eigenen Geschlechtstriebes abgesehen haben müsse. « 237
Bloße Betastungen der Geschlechtsteile einer Person durch eine andere
233 Vgl Herbst Eduard, Handbuch 242.
234 Ab 1876 erachtete das Preußische Obertribunal zur Erfüllung des Tatbestandes der
widernatürlichen Unzucht eine beischlafähnliche Handlung für notwendig. Das
mit 1. Oktober 1879 eingerichtete deutsche Reichsgericht übernahm die Auslegung
des Preußischen Obertribunals und verlangte eine dem » naturgemäßen Beischlaf «
analoge Handlung, siehe Sommer Kai, Die Strafbarkeit der Homosexualität von
der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus. Eine Analyse der Straftatbestände im
Strafgesetzbuch und in den Reformentwürfen ( 1871–1945 ) 49 f. Während der NS-
Zeit erfuhren die strafrechtlichen Regelungen über die widernatürliche Unzucht
eine erhebliche Ausweitung: Strafbar war nicht mehr nur die » widernatürliche «,
also die » beischlafähnliche «, sondern jegliche Unzucht. Dementsprechend stufte
das Reichsgericht auch Handlungen ohne körperliche Berührung des anderen
Teils als Unzucht ein, vgl Schäfer Christian, » Widernatürliche Unzucht « ( §§ 175,
175a, 175b, 182 a.F.StGB ). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945 ( 2006 ) 40 ff
mwN. Bei dieser Rechtsprechung blieb es auch nach 1945: In zwei Urteilen aus dem
Jahr 1953 erachtete der Bundesgerichtshof sowohl gleichzeitige Onanie, als auch
das Zusehen bei den wechselseitigen Unzuchtshandlungen anderer als strafbare
» Unzucht «; BGH, Urteil vom 22. 9. 1953 – 2 StR 160 / 53 ( LG Osnabrück ); BGH, Urteil
vom 13. 11. 1953 – 2 StR 456 / 53 ( LG Bonn ).
235 Vgl Hoegel Hugo, Die » Verkehrtheit « des Geschlechtstriebes im Strafrechte, Der Ge-
richtssaal 1897, 103 ( 120 ).
236 Senft Eduard, Österreichische Vierteljahresschrift für Rechts- und Staatswissen-
schaften 1866, 216.
237 Winkler Maximilian, Vergleichende Studie über den Strafrechtsbegriff der » Unzucht
wider die Natur « und ähnlicher Sittlichkeitsdelicte nach den wichtigsten continen-
talen Strafgesetzen, JBl 1901, 49.
back to the
book Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik