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Zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
C. » … von unsinnigen, und anderen der Vernunft
beraubten Leuten « – Zur Feststellung der
Zurechnungsfähigkeit durch Gerichtsärzte
Während die Einschränkung der strafrechtlichen Subjektivität von
Frauen häufig bereits auf der Tatbestandsebene stattfand, wie etwa
beim Delikt der Notzucht nach § 127 StG 1852 oder in jenen europäischen
Ländern, die die gleichgeschlechtliche Unzucht von vornherein nur zwi-
schen Personen männlichen Geschlechts bestraften, erfolgte sie bei al-
tersbedingter Unreife oder psychischem Unvermögen zu normgemä-
ßem Handeln auf der Ebene der Schuldfähigkeit. Mit der Verlagerung
des Fokus von physischen Vorgängen und deren Nachweis hin zu einem
seelischen Erleben und Empfinden sowie der Unterscheidung zwischen
freiwilligen » Perversitäten « und krankheitsbedingten perversen Hand-
lungen oder Perversionen hatte die Sexualwissenschaft den Raum fĂĽr
die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit der Konträrsexualen eröff-
net.366 Diese Entwicklung fand sich bereits bei Casper angedeutet, der
die Zuneigung des » Päderasten « zu seinem eigenen Geschlecht in den
meisten Fällen auf einen » wunderbaren, dunkeln, und unerklärlichen
eingeborenen Drang « zurückführte, in dem » quasi eine Entschuldigung
für seine Sünden gesucht werden müsste. « 367 Auch Westphal betonte,
dass es sich zwar nicht in allen Fällen gleichgeschlechtlicher Unzucht
um eine » pathologische Geschlechtsverirrung « handle, dies jedoch
häufiger vorkäme, als gemeinhin angenommen und dass es, » schon der
forensischen Wichtigkeit der Sache wegen, Pflicht [ sei ], die Aufmerk-
samkeit diesem Gegenstande zuzuwenden. « 368 Er selbst ließ die Frage
nach der Zurechnungsfähigkeit in den von ihm untersuchten Fällen
unbeantwortet, sie sei auch von Gerichts wegen niemals aufgeworfen
worden. Mit der zunehmenden Verbreitung sexualwissenschaftlicher
erfolgen, § 5 RGBl 1885 / 89. Vgl zum geminderten Subjektstatus Prostituierter Engel-
stein Laura, The Journal of Modern History 1988, 458 ff.
366 Vgl dazu auch Müller Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychia-
trie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933 ( 2004 ) 37; Laut-
mann Rüdiger, Moral, Wissenschaft und Strafrecht – am Beispiel der Begründungen
zum Homosexuellenparagraphen im 19. Jahrhundert, in Frehsee Detlev / Löschper
Gabi / Schumann Karl F. ( hg ), Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung
( 1993 ) 258 ( 261 f ).
367 Casper Johann Ludwig, Klinische Novellen zur gerichtlichen Medicin. Nach eignen
Erfahrungen ( 1863 ) 34 ( Hervorhebungen im Original ).
368 Westphal Carl, Archiv fĂĽr Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1869, 108.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik