Page - 97 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Image of the Page - 97 -
Text of the Page - 97 -
97
Zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
nischer Erkenntnisse in die Strafrechtswissenschaft.381 Gegenstand des
Ermittlungsverfahrens war nicht mehr ausschlieĂźlich die Tat, vermehrt
wurden Persönlichkeit und Umfeld der Täter und Täterinnen in den
Blick genommen.382 Dabei hatte es die anfängliche Betonung der Wil-
lensfreiheit als wesentlichstes Kriterium fĂĽr das Vorliegen der Zurech-
nungsfähigkeit zunächst zweifelhaft erscheinen lassen, welche Diszip-
lin ĂĽberhaupt zur Beantwortung der Frage berufen war, ob eine Person
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden konnte.383 Immanuel
Kant hatte diese Kompetenz noch entschieden fĂĽr die Philosophie ein-
gefordert, da » die Aerzte und Physiologen überhaupt noch nicht so weit
[ sind ], um das Maschinenwesen im Menschen so tief einzusehen, daĂź
sie die Anwandlung zu einer solchen Gräuelthat daraus erklären « 384. Bei
Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit durch Juristen handle es sich
schließlich um » Einmischung in fremdes [ sic ! ] Geschäfte, wovon der
Richter nichts versteht «.385 » [ M ]ehr neu, als treffend « bezeichnete Jenull
diese Auffassung. Da ihm ein Leiden der » Seele als solche « unwahr-
scheinlich erschien, erachtete er die mit den körperlichen Leiden im
Allgemeinen vertrauten Ärzte für die Untersuchung des Geisteszustan-
des als zuständig.386 Schlussendlich konnte sich die Vorstellung durch-
setzen, dass die Beschaffenheit des menschlichen Geistes von der kör-
perlichen Organisation abhänge. Die Beurteilung der menschlichen
Psyche durch gerichtliche Sachverständige gewann zusehends an Be-
deutung und schuf damit die Voraussetzung fĂĽr die Entstehung der fo-
rensischen Psychiatrie als eigenständige medizinische Disziplin.387
381 Vgl Greve Ylva, Richter und Sachverständige. Der Kompetenzstreit über die Beur-
teilung der Unzurechnungsfähigkeit im Strafprozeß des 19. Jahrhunderts, in Ber-
ding Helmut / Klippel Diethelm / Lottes Günther ( hg ), Kriminalität und abweichendes
Verhalten. Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert ( 1999 ) 71 ( 74 ).
382 Vgl Becker Peter, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des
19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis ( 2002 ) 39 ff.
383 Zum Kompetenzstreit zwischen Juristen und Medizinern vgl ausfĂĽhrlich auch
Gschwend Lukas, Geschichte 275 ff.
384 Kant Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 2 ( 1800 ) 143.
385 Kant Immanuel, Anthropologie 2 143.
386 Vgl Jenull Sebastian, Das Oesterreichische Criminal-Recht nach seinen GrĂĽnden
und seinem Geiste dargestellt III ( 1837 ) 165 Fn a ).
387 Vgl Greve Ylva in Berding Helmut / Klippel Diethelm / Lottes GĂĽnther ( hg ), Kriminali-
tät 81 ff; Baumann Immanuel, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der
Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980 ( 2006 ) 35; Wetzell
Richard F., Psychiatry and criminal justice in modern Germany, 1880–1933, Journal
of European Studies 2009, 270 ( 271 ).
back to the
book Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik