Page - 104 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Image of the Page - 104 -
Text of the Page - 104 -
104 III. Das Recht zu sündigen
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
krankheit leide. Nur eine Geisteskrankheit, die den Gebrauch der Ver-
nunft gänzlich ausschließe, könne als Voraussetzung für das Vorliegen
eines Schuldausschließungsgrundes gem § 2 lit a StG 1852 angesehen
werden. Der Angeklagte sei dagegen durchaus in der Lage, das Straf-
gesetzwidrige seines Handelns einzusehen und habe daher seinen » in
widernatürlicher Form auftretenden Geschlechtstrieb « zu beherrschen.
Sein konträrsexuelles Empfinden könne darüber hinaus allenfalls straf-
mildernd wirken.410
Die Annahme, die konträre Sexualempfindung könne als » abwech-
selnde Sinnenverrückung « den Schuldausschließungsgrund des § 2
lit b StG 1852 erfüllen, lehnte der Oberste Gerichtshof gleichfalls ab.
Dementsprechend hob er das Urteil des Landesgerichtes Wien auf, mit
dem Julius P. von der Anklage wegen versuchter Verleitung zur Unzucht
wider die Natur und wegen Übertretung gegen die öffentliche Sittlich-
keit nach § 516 StG 1852 freigesprochen worden war. Julius P. hatte Fer-
dinand G. und Karl B. erfolglos zur widernatürlichen Unzucht aufge-
fordert und die öffentliche Sittlichkeit durch unzüchtige Reden und
Betastungen verletzt. Das Urteil des Erstgerichtes hatte festgestellt,
dass Julius P. konträrsexuell veranlagt sei und diese Veranlagung einem
organischen Zwang gleichkomme, durch den seine freie Willensbestim-
mung zumindest zeitweilig völlig ausgeschlossen sei. In jenen Momen-
ten, in denen Julius P. homosexuelle Akte setzte, sei er des Gebrauchs
der Vernunft gänzlich beraubt gewesen. Dieser Einschätzung folgte der
Oberste Gerichtshof nicht. Es sei zwar durch gerichtsärztliches Gutach-
ten festgestellt, dass Julius P. » erblich schwer belastet, minder intelli-
gent, mit geringerer Widerstandskraft ausgestattet und daher geistig
minderwertig « 411 sei, nicht aber, dass er an einer Geistesstörung leide.
Die homosexuelle Veranlagung des Angeklagten bringe nur eine par-
tielle Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung mit sich, nicht
aber eine gänzliche Aufhebung, weshalb der Schuldausschließungs-
grund des § 2 lit b StG 1852 nicht vorliege.412 Vorübergehende Sinnenver-
rückung verlange eine » zeitweise auftretende Störung und Hemmung
des ganzen seelischen Lebens, des ganzen Intellektes eines Menschen,
410 Vgl KH 2840. Der Vertreter der Generalprokuratur führte aus, dass » [ d ]e lege fe-
renda [ . ] eine Modifikation der Strafnorm des § 129 I b St.G. erwünscht erscheinen «
möge, de lege lata bliebe jedoch nichts anderes übrig, als das bestehende Gesetz
anzuwenden.
411 KH 3458.
412 Vgl KH 3066.
back to the
book Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik