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138 IV. Wunsch nach einem neuen Strafrecht
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Standpunkt zwischen dem Strafrechtsausschuss und der in der Sexu-
alwissenschaft mehrheitlich vertretenen Auffassung ein. Er bezog hin-
sichtlich der Frage nach der Krankhaftigkeit der gleichgeschlechtlichen
Unzucht keine eindeutige Stellung. Stattdessen konzentrierte sich der
Sanitätsrat vornehmlich auf die Strafwürdigkeit der Tat, die seiner An-
sicht nach bei einem GroĂźteil der fraglichen geschlechtlichen Handlun-
gen verneint werden musste. In den meisten Fällen bestehe die gleich-
geschlechtliche Unzucht in wechselseitiger Onanie. Diese gelte aber,
wenn sie allein verĂĽbt werde, lediglich als Laster und nicht als Verbre-
chen. Auch die » eigentliche Päderastie «, der Analverkehr, werde nicht
nur zwischen Mann und Mann, sondern auch zwischen Mann und Frau
ausgeĂĽbt, ohne dass durch letzteres ein Straftatbestand erfĂĽllt werde.544
Die in Frage stehenden Akte hätten » weder in medicinischer, noch in
socialer Hinsicht eine so hohe Bedeutung, dass sie mit den ĂĽbrigen,
vom Gesetze als Verbrechen bestraften Unzuchtsarten in gleiche Linie
gestellt werden könnten. « 545
Häufig werde die gleichgeschlechtliche Unzucht von Personen aus-
geübt, » denen der normale Geschlechtsgenuss versagt ist « 546 und stelle
mitunter auch eine Teilerscheinung eines pathologischen Zustandes
dar. Die Betroffenen seien jedoch nicht immer als » Geisteskranke im
engeren Sinne « zu bezeichnen. Schließlich würde durch die Beseitigung
der Strafdrohung auch jenen » schändlichsten Erpressungen « Einhalt
geboten, zu denen die Strafnorm Anlass gab.547
Weder in PreuĂźen noch in Ă–sterreich konnten die medizinischen Ex-
perten ihren Ansichten durch die erstellten Gutachten zum Durchbruch
verhelfen. Es war der Medizin an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
dert gelungen, sich als Fachdisziplin zu etablieren, wenn es um die Er-
forschung der menschlichen Sexualität ging. Ihre Überzeugung, Kont-
rärsexuale seien nicht dem Richter, sondern dem Arzt zu überantworten,
lieĂź sich im Rahmen der Versuche einer Strafrechtsreform jedoch nicht
durchsetzen.548 Der Strafrechtsausschuss folgte den Anregungen des k.k.
obersten Sanitätsrates nicht. Er hielt es lediglich im Einzelfall für prü-
fenswert, ob durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit die Zu-
544 Vgl Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 37 f.
545 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 38.
546 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 38.
547 Krafft-Ebing Richard von, Conträrsexuale 38 f.
548 Siehe dazu auch Oosterhuis Harry, Stepchildren 35.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik