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Die österreichische Reformdiskussion in der Zwischenkriegszeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Seitens der Sexualwissenschaft versuchte man noch einmal ganz
gezielt, auf die Strafrechtsreform Einfluss zu nehmen. Das 1897 von
Magnus Hirschfeld in Berlin gegründete Wissenschaftlich-humanitäre
Komitee wandte sich nach Veröffentlichung des Amtlichen Entwurfs
an die erste sexualwissenschaftliche Forschungsstelle in Deutschland,
das 1919 ebenfalls von Hirschfeld ins Leben gerufene Institut für Sexual-
wissenschaft in Berlin, und ersuchte es, ein » Kartell für Reform des Se-
xualstrafrechts « zu gründen.716 Auf die Gründungsversammlung am 19.
Jänner 1925 folgten zahlreiche Plenar- und Kommissionssitzungen des
Kartells, deren Ergebnis der im April 1927 veröffentlichte » Gegen-Ent-
wurf « 717 zu den Sittlichkeitsdelikten des Amtlichen Entwurfs darstellte.
Der Gegen-Entwurf berief sich auf das Prinzip des Rechtsgüterschut-
zes: Sexuelle Handlungen sollten nur strafbar sein, soweit sie die freie
Selbstbestimmung und Gesundheit von Personen oder geschlechtsun-
reife Personen beeinträchtigten. Zwischen gleich- und verschiedenge-
schlechtlichen Handlungen dürfe dann aber nicht unterschieden wer-
den. § 267 1. Absatz sei zu streichen, Teile des 2. Absatzes integrierte der
Gegen-Entwurf in die entsprechenden Bestimmungen über verschie-
dengeschlechtliche Handlungen. Seine Forderungen begründete das
Kartell mit den Ergebnissen sexualwissenschaftlicher Forschung, eine
Beibehaltung der Strafbarkeit sei » mit einer modernen Auffassung des
Geschlechtslebens unvereinbar « 718. Darüber hinaus zitierte es die Ein-
gaben des Wissenschaftlich-humanitären Komitees an den deutschen
Reichstag und fügte eine Auswahl der Unterschriften der wichtigsten
Unterstützer und Unterstützerinnen dieser Eingaben bei.719 Abzuleh-
nen sei die Begründung des Amtlichen Entwurfes, das » Empfinden des
Volkes « verlange eine Bestrafung der Unzucht zwischen Männern. Ein
wie auch immer geartetes » Volksempfinden « könne nicht als hinrei-
chend ermittelt gelten. Soweit Teile des Volkes eine Bestrafung gleich-
geschlechtlicher Akte wünschten, gingen sie von mehren falschen Vo-
716 Vgl Sommer Kai, Strafbarkeit 246.
717 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, Gegen-Entwurf zu den Strafbestimmungen
des Amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs über ge-
schlechtliche und mit dem Geschlechtsleben im Zusammenhang stehende Hand-
lungen ( Abschnitte 17, 18, 21, 22 und 23 ) nebst Begründung ( 1927 ).
718 Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, Gegen-Entwurf 38.
719 Vgl Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, Gegen-Entwurf 42 ff. Unter den Unter-
stützern und Unterstützerinnen fanden sich neben zahlreichen anderen die Juris-
ten Franz von Liszt, Gustav Radbruch, Wolfgang Mittermaier und Max Alsberg.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik