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198 V. Das Verfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
das amtswegige, schriftliche und geheime Verfahren galt das Inquisiti-
onsprinzip. Sämtliche Prozessfunktionen oblagen dem » Criminal-Rich-
ter «. Eine formelle Verteidigung fehlte; auch nach Abschluss der Unter-
suchung und vor Fällung des Urteils fand keine eigene Verteidigung des
Beschuldigten statt. Nur in wenigen Fällen wurde der Rekurs zugelassen,
hier war den Angeschuldigten auf ihr Verlangen ein Rechtsbeistand zur
VerfĂĽgung zu stellen.802 Die BeweisfĂĽhrung war durch eine positive ge-
setzliche Beweistheorie geregelt: Trafen die vom Gesetz an die Beweis-
mittel gestellten Anforderungen zu, war der Richter unabhängig von sei-
ner eigenen Ăśberzeugung gezwungen, die Schuld beziehungsweise die
Unschuld der Angeklagten als erwiesen anzunehmen.803 Als Beweismittel
galten das Geständnis, die Aussagen von Zeuginnen und Zeugen sowie
das Zusammentreffen von Umständen. Die Folter blieb ausgeschlossen,
an ihre Stelle traten Ungehorsamsstrafen.804 Beinahe wörtlich wurden
die Bestimmungen der allgemeinen Kriminalgerichtsordnung zunächst
in das westgalizische Strafgesetzbuch und von diesem in das Strafgesetz
1803 ĂĽbernommen, das materielles Recht und Verfahrensrecht abermals
in einem einzigen Gesetzeswerk vereinte. Es folgte dem Inquisitionsprin-
zip und baute es weiter aus. Anweisungen und Richtlinien kriminalisti-
schen Inhalts banden den Richter im Hinblick auf die vorzunehmenden
Erhebungen, die Spurensicherung und den Umfang des festzustellenden
Sachverhalts. An die Stelle der positiven setzte das Strafgesetz 1803 eine
negative Beweistheorie: Die Beweiswürdigung war nun grundsätzlich
frei, nur für eine Verurteilung verlangte das Gesetz ein näher umschrie-
benes MindestmaĂź an Beweis.805 Das Verfahren selbst war schriftlich und
geheim. Beschuldigte konnten dem Gericht alles an die Hand geben, was
ihrer Verteidigung nutzte, die Beigebung eines Vertreters oder Verteidi-
gers war allerdings ausgeschlossen ( § 337 StG 1803 ).
Die durch die Revolutionen des Jahres 1848 bedingten politischen
Veränderungen brachten entscheidende Umwälzungen im Bereich des
Strafverfahrens mit sich. Bereits seit der Einrichtung einer eigenen Hof-
stelle, der Obersten Justizhofkanzlei, die seit 1749 den Namen » Oberste
Justizstelle « trug, hatte eine Trennung von Justiz und übriger staatlicher
802 Vgl Lohsing Ernst, StrafprozeĂźrecht 3 16.
803 Vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 54.
804 Vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 13; Hartl Friedrich, Kriminalgericht 23.
805 §§ 396–414 StG 1803. Vgl Krause Friedrich-Wilhelm, Grenzen richterlicher Beweiswür-
digung im Strafprozess, in FS Peters ( 1974 ) 323 ( zur Kritik insb 324 ).
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik