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200 V. Das Verfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Ausgestaltung dieser Grundsätze. Die Würthsche Strafprozessordnung
markierte einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung des Straf-
verfahrensrechts im 19. Jahrhundert: Sie » war die erste moderne, libe-
ral-demokratischen Grundsätzen verpflichtete Strafprozessordnung
Österreichs. « 815 Das Hauptverfahren stand auf der Grundlage des Ankla-
geprozesses und war beherrscht von den Prinzipien der Öffentlichkeit
und Mündlichkeit des Verfahrens sowie der freien Beweiswürdigung.816
Nur ausnahmsweise erlaubte § 261 StPO 1850 den Ausschluss der Öffent-
lichkeit von der Hauptverhandlung, um eine Verletzung der Sittlichkeit
zu vermeiden. Bei der Beurteilung, ob durch die Öffentlichkeit der Ver-
handlung die Sittlichkeit gefährdet wurde, kam dem Gericht freies Er-
messen zu.817 Alle schweren Verbrechen, Pressedelikte und politischen
Straftaten verwies Art VII StPO 1850 in die Zuständigkeit von Geschwo-
renengerichten.818 Für das Delikt der Unzucht wider die Natur waren
gem Art IX lit A Z 5 StPO 1850 die Bezirks-Collegialgerichte zuständig,
denen sowohl die Voruntersuchung, als auch die Hauptverhandlung
und die Entscheidung in erster Instanz oblag ( § 11 StPO 1850 ). Die Be-
zirks-Collegialgerichte stellten einen neuen Gerichtstypus dar. Errich-
tet wurden sie an den Sitzen größerer Bezirksgerichte, wobei sich ihre
Jurisdiktion auch auf die Sprengel kleinerer Bezirksgerichte erstreck-
te.819 Am Sitz der Landesgerichte gab es keine Bezirks-Collegialgerichte,
stattdessen fungierten die Landesgerichte gem § 15 StPO 1850 für den
Umfang eines bestimmten Bezirks durch einen aus ihrer Mitte gebil-
deten Senat als Bezirks-Collegialgerichte. In Österreich ob der Enns
sentlichen auf dem französischen Recht fußte, vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2
15; Rulf Friedrich / Gleispach Wenzeslaus, Strafprozeß 4 11.
815 Hautmann Hans, Der Kampf um die Geschwornengerichtsbarkeit 1848–1873, in
Weinzierl Erika / Stadler Karl R. ( hg ), Justiz VI 231 ( 244 ). Vgl dazu auch Steininger
Einhard, Die Gerichtsorganisation im Strafverfahren seit dem Jahr 1848 und der
Zusammenhang zwischen den erstinstanzlichen Garantien und dem Rechtsschutz
in der Tatfrage, in Weinzierl Erika / Ardelt Rudolf ( hg ), Justiz und Zeitgeschichte VII.
Geschichte der Strafprozeßordnung 1760–1987 ( 1989 ) 15 ( 18 ff ).
816 Vgl Würth Joseph von, Strafprocessordnung 15 ff; Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 15.
817 Das von Würth als Beispiel für die Zulässigkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit
angeführte Erkenntnis begründete den Ausschluss damit, » daß die bei der Ver-
handlung über diese Anklage zur Sprache kommenden Einzelheiten von solcher
Art sind, daß die öffentliche Verhandlung derselben das sittliche Gefühl tief ver-
letzen würde «, Würth Joseph von, Strafprocessordnung 428.
818 Unter den Sittlichkeitsdelikten war davon ausschließlich die Notzucht ( §§ 110–112
StG 1803 ) betroffen.
819 Vgl Laich Mario, Entwicklung der Strafrechtspflege in Tirol und Vorarlberg, in
FS Hundert Jahre österreichische Strafprozeßordnung 1873–1973 ( 1973 ) 73 ( 83 ).
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik