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Entwicklung des » modernen « Strafverfahrens bis 1918
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Österreich ob der Enns wurde mit Verordnung vom 25. November 1853 835
dem Sprengel des Oberlandesgerichtes Wien zugewiesen.836 Als Ge-
richtshöfe erster Instanz wurden das Landesgericht Linz und die Kreis-
gerichte Ried, Steyr und Wels eingerichtet. Der Sprengel des Landes-
gerichtes Linz umfasste neben der Landeshauptstadt Linz auch den
so genannten Mühlkreis.837 Im Jahr 1853 waren dies insgesamt 221 Ge-
meinden in 15 Bezirken mit einer Bevölkerung von 223 261 Personen.838
Örtlich zuständig in Verfahren wegen des Verbrechens der gleich-
geschlechtlichen Unzucht war gem § 38 StPO 1853 grundsätzlich jenes
Untersuchungsgericht beziehungsweise jener Gerichtshof, in dessen
Sprengel die Unzucht verübt wurde. Wurde die Tathandlung an der
Grenze mehrerer Gerichtsbezirke begangen, war jenes Gericht für das
Untersuchungsverfahren zuständig, das zuerst eine Untersuchungs-
handlung setzte. Die Schlussverhandlung und Entscheidung oblag in
diesem Fall dem Gerichtshof, dem das Untersuchungsgericht unter-
stand. Die Schlussverhandlung vor dem Gerichtshof erster Instanz war
öffentlich und mündlich, allerdings diente sie kaum einer wirklich un-
mittelbaren Beweisaufnahme: Das Schwergewicht lag auf der geheimen
Untersuchung, deren Ergebnisse in der Schlussverhandlung erörtert
und überprüft wurden. Der Staatsanwalt vertrat die Anklage. Anders
als während der Voruntersuchung war die formelle Verteidigung in der
Schlussverhandlung zugelassen. Im Unterschied zur Strafprozeßord-
nung 1850 kam nun auch der Verteidigung das direkte Fragerecht zu.839
An die Stelle der freien Beweiswürdigung trat erneut die negative Be-
weistheorie des Strafgesetzes 1803. In § 95 StPO 1853 fand sich erstmalig
eine genaue Regelung des Verfahrens, das bei Zweifeln über den Geistes-
tanzliche Urteil zugunsten der angeklagten Person abgeändert wurde, keine Be-
rufung erheben ( § 301 StPO 1853 ).
835 Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 25. Novem-
ber 1853, betreffend die politische und gerichtliche Organisirung des Erzherzogt-
humes Oesterreich ob der Enns, RGBl 1853 / 250.
836 Mit 30. August 1854 wurde das Oberlandesgericht Linz aufgelöst, Verordnung des
Justizministeriums vom 14. August 1854, über die Auflösung des Oberlandesgerich-
tes zu Linz, und die Activirung des vereinigten Oberlandesgerichtes zu Wien für
Oesterreich ob und unter der Enns und Salzburg, RGBl 1854 / 206.
837 Der Mühlkreis umfasste die Bezirke Aigen, Freistadt, Grein, Haslach, Lembach, Le-
onfelden, Linz Umgebung, Mauthausen, Neufelden, Ottensheim, Perg, Pregarten,
Rohrbach, Urfahr und Weißenbach.
838 Siehe die » Summarische Darstellung der Eintheilung des Erzherzogthumes Oes-
terreich ob der Enns in Kreise und Bezirke «, RGBl 1853 / 250.
839 Vgl Vargha Julius, Strafprozessrecht 2 16.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik