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Entwicklung des » modernen « Strafverfahrens bis 1918
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Herrschaftsausübung in der Habsburgermonarchie eine neue Grund-
lage. Die liberalen Kräfte waren dabei vorrangig um die Durchsetzung
des Rechtsstaates bemüht, ihr Streben nach Verrechtlichung der staat-
lichen Gewalt blieb nicht ohne Einfluss auf das Strafverfahrensrecht: 847
Das Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt enthielt die Grund-
sätze für die Gerichtsbarkeit. Auf verfassungsrechtlicher Ebene garan-
tierte es die richterliche Unabhängigkeit ( Art 6 ), die Öffentlichkeit und
Mündlichkeit des Verfahrens ( Art 10 ) und die Einrichtung von Schwur-
gerichten für schwere, durch das Gesetz zu bezeichnende Verbrechen
sowie alle politischen oder durch den Inhalt einer Druckschrift ver-
übten Verbrechen und Vergehen ( Art 11 ). In Umsetzung der verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben erfolgte 1869 zunächst die Einrichtung von
Schwurgerichten für Pressevergehen.848 Im Mai 1873 wurde schließlich
eine neue Strafprozessordnung ( StPO 1873 ) 849 samt einem Einführungs-
gesetz erlassen, die mit 1. Jänner 1874 in Kraft trat.
Das neue österreichische Strafprozessrecht unterzog den Inquisiti-
onsprozess einer tief greifenden Umgestaltung. Für die Hauptverhand-
lung galten die Grundsätze der Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Unmittel-
barkeit und der freien Beweiswürdigung. Der Strafprozess basierte auf
dem Anklagegrundsatz, dem die Trennung der Funktionen des Richter-
amts, der Anklage und der Verteidigung entsprach.850 Das Vorverfahren
sollte lediglich der Vorbereitung der Hauptverhandlung dienen, die der
Gesetzgeber als eigentlichen Schwerpunkt des Verfahrens entworfen hat-
te.851 Das Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtete die am Strafver-
fahren beteiligten Behörden, die zur Belastung und zur Verteidigung des
Beschuldigten dienenden Umstände gleichermaßen zu berücksichtigen
richterliche Gewalt, RGBl 1867 / 144, und das Staatsgrundgesetz vom 21. Decem-
ber 1867, über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt, RGBl 1867 / 145.
847 Vgl Czech Philip, Kaiser 91 f.
848 Gesetz vom 9. März 1869, betreffend die Einführung von Schwurgerichten für die
durch den Inhalt einer Druckschrift verübten Verbrechen und Vergehen, RGBl
1869 / 32.
849 Gesetz vom 23. Mai 1873, betreffend die Einführung einer Strafproceß-Ordnung,
RGBl 1873 / 119.
850 Die Bedeutung des Anklageprinzips betraf allerdings nur die Frage, ob eine ge-
richtliche Untersuchung stattfinden sollte. Eine umfassende Stoffsammlung durch
die Parteien war dagegen nicht vorgesehen, vgl Moos Reinhard, Grundlinien und
Standortbestimmung des österreichischen Strafprozeßrechts, in Jung Heike ( hg ),
Der Strafprozeß im Spiegel ausländischer Verfahrensordnungen ( 1989 ) 47 ( 66 f ).
851 Gesetz und Wirklichkeit wichen in diesem Punkt allerdings erheblich voneinander
ab. Vgl dazu Kapitel VII und VIII.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik