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208 V. Das Verfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
( § 3 StPO 1873 ). In der Hauptverhandlung hatte der Vorsitzende die Er-
mittlung der Wahrheit zu befördern ( § 232 StPO 1873 ), auch bei einem
Geständnis sollte der Tatbestand daher soweit als möglich erhoben
werden ( § 206 StPO 1873 ). Die Hauptverhandlung musste öffentlich sein,
andernfalls lag ein Nichtigkeitsgrund vor. Lediglich aus Gründen der
Sittlichkeit oder der öffentlichen Ordnung konnte die Öffentlichkeit
ausgeschlossen werden ( §§ 228, 229 StPO 1873 ).
Zur Gerichtsbarkeit in Strafsachen berief § 8 StPO 1873 die Bezirksge-
richte 852, die Gerichtshöfe erster Instanz, die Geschworenengerichte, die
Gerichtshöfe zweiter Instanz und den obersten Gerichtshof » als Cassa-
tionshof «. Die Gerichtshöfe erster Instanz ( Landes- oder Kreisgerichte )
übten ihre Gerichtsbarkeit gem § 10 StPO 1873 als Untersuchungsge-
richte und Ratskammern über Vorerhebungen und Voruntersuchungen
sowie als Erkenntnisgerichte hinsichtlich aller nicht vor die Geschwore-
nengerichte gehörigen Verbrechen und Vergehen aus. Darüber hinaus
fungierten sie als Berufungsgericht in Übertretungsfällen. Für die Un-
tersuchungsgerichtsbarkeit waren ein oder mehrere Mitglieder jedes Ge-
richtshofes erster Instanz zu Untersuchungsrichtern zu bestellen. Ihnen
oblag die Voruntersuchung wegen aller Verbrechen und Vergehen. Der
Ratskammer oblag gem § 12 StPO 1873 die Aufsicht über alle in den Ge-
richtssprengel fallenden Voruntersuchungen und Vorerhebungen. Ihre
Beschlüsse fasste sie in Versammlungen von drei Richtern.
Gem § 13 Z 1 StPO 1873 waren zur Verhandlung über das Verbrechen
der widernatürlichen Unzucht die Gerichtshöfe erster Instanz zustän-
dig. Als Erkenntnisgerichte übten sie ihre Tätigkeit als Kollegialgerichte
in Versammlungen von vier Richtern aus. Lag die Qualifikation des
§ 130 Abs 2 StG 1852 vor,853 waren gem Art VI lit B Z 11 des Einführungs-
gesetzes zur Strafprozeßordnung 1873 die Geschworenengerichte 854 zu-
852 Bereits 1868 waren die Bezirksgerichte wieder ins Leben gerufen und ihnen die bis
dahin von den gemischten Bezirksämtern versehenen Justizgeschäfte übertragen
worden, Gesetz vom 11. Juni 1868, betreffend die Organisirung der Bezirksgerichte,
RGBl 1868 / 59.
853 Dies war dann der Fall, wenn die Tat durch Herbeiführung der Widerstandsun-
fähigkeit des » Opfers « durch gefährliche Bedrohung, wirklich ausgeübte Gewalt-
tätigkeit oder arglistige Betäubung der Sinne ausgeführt worden war oder einen
wichtigen Nachteil an der Gesundheit oder dem Leben des Opfers zur Folge hatte.
854 Gleichzeitig mit der StPO 1873 wurde das Gesetz vom 23. Mai 1873, betreffend
die Bildung der Geschworenenlisten, RGBl 1873 / 121, erlassen. Das Gesetz vom
23. Mai 1873, betreffend die zeitweise Einstellung der Geschworenengerichte, RGBl
1873 / 120, ermächtigte die Regierung nach Anhörung des Obersten Gerichtshofes
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik