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220 V. Das Verfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
Das Strafgesetz 1852 ließ die gerichtliche Strafmündigkeit noch mit dem
vollendeten zehnten Lebensjahr beginnen. Bis dahin sollten strafbare
Handlungen » bloß [ durch ] häusliche[ . ] Züchtigung « geahndet werden
( § 237 StG 1852 ). Strafbare Handlungen von Elf- bis Dreizehnjährigen,
die ihrer Eigenschaft nach Verbrechen waren, wurden bei der Begehung
durch Unmündige gem § 237 StG 1852 lediglich als Übertretungen be-
straft. Sie zogen gem § 270 StG 1852 » Verschließung an einem abgeson-
derten Verwahrungsorte, nach Beschaffenheit der Umstände von einem
Tage bis zu sechs Monaten « nach sich. Handelte es sich bei der straf-
baren Handlung Unmündiger dagegen um ein Vergehen, so blieb dies
gem § 273 StG 1852 grundsätzlich der häuslichen Züchtigung und nur
in Ausnahmefällen der Ahndung und Vorkehrung der Sicherheitsbe-
hörde überlassen. Jugendliche, die das vierzehnte Lebensjahr vollen-
det hatten, wurden wie Erwachsene behandelt. Für sie galten dieselben
Strafdrohungen wie für erwachsene Täter und Täterinnen, das geringe
Alter fand gem § 46 lit a StG 1852 lediglich als Milderungsgrund Berück-
sichtigung.905
Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die
strenge Behandlung jugendlicher Rechtsbrecher und Rechtsbrecherin-
nen durch das Strafgesetz 1852 längst nicht mehr unumstritten.906 Viel-
mehr war man sich einig, dass Jugendliche bei einem Rechtsbruch an-
ders zu behandeln seien wie Erwachsene. Diskutiert wurden sowohl
ein eigenständiges materielles Jugendstrafrecht als auch spezielle ver-
fahrensrechtliche Bestimmungen für Jugendliche. In den zahlreichen
Entwürfen zu einer Novellierung des Strafgesetzes 1852 fehlte es auch
nicht an Vorschlägen zur Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze sowie
zur Einführung einer » Übergangsphase «, während der dann Straflosig-
keit eintreten sollte, wenn den jugendlichen Tätern oder Täterinnen die
zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht fehlte.907 Die vor
dem Ersten Weltkrieg eingebrachten Entwürfe fanden allerdings keine
Behandlung mehr.908
905 Siehe dazu auch Ackermann Leonie, Die Altersgrenzen der Strafbarkeit in Deutsch-
land, Österreich und der Schweiz ( 2008 ) 78.
906 Zur Entwicklung des österreichischen Jugendstrafrechts vgl Neumair Michael, Ju-
gendliche Starftäter in den österreichischen Strafgesetzen und Reformentwürfen
von 1803 bis 1928, in Mathé Gábor / Ogris Werner ( hg ), Die Entwicklung der österrei-
chisch-ungarischen Strafrechtskodifikation im XIX.–XX. Jahrhundert ( 1996 ) 143.
907 Siehe die Darstellung in 8 BlgStenProtNR III. GP 10.
908 Vgl Ackermann Leonie, Altersgrenzen 79.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik