Page - 221 - in Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Image of the Page - 221 -
Text of the Page - 221 -
221
Das österreichische Strafverfahrensrecht in der Zwischenkriegszeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Ein Jahr nach Kriegsende wurde der Bundesminister für Justiz zur
Einrichtung von Jugendgerichten und zur Bestellung von Jugendrich-
tern ermächtigt.909 Die Jugendgerichte hatten die Strafgerichtsbarkeit
grundsätzlich nur in » Jugendsachen « 910 auszuüben. Mit Vollzugsanwei-
sung vom 23. September 1920 911 wurde ein Jugendgericht für das Ge-
biet der einundzwanzig Wiener Gemeindebezirke errichtet. Für alle Be-
zirksgerichte außerhalb Wiens, die mit der Pflegschaftsgerichtsbarkeit
betraut waren, ordnete die Vollzugsanweisung die Bestellung von Ju-
gendrichtern an. Im Bereich des Jugendgerichts Wien fand wegen Ver-
brechen und Vergehen Jugendlicher auch das vereinfachte Verfahren
statt,912 das allerdings gewissen Einschränkungen 913 unterlag: So galten
als Jugendsachen im vereinfachten Verfahren nur Strafsachen, an de-
nen ausschließlich Jugendliche beteiligt waren. Die Strafsache konnte
an das für Erwachsene zuständige Gericht abgetreten werden, wenn
der oder die Beschuldigte vor Fällung des erstinstanzlichen Urteils das
einundzwanzigste Lebensjahr erreichte. Die Strafprozessnovelle 1924
hob außerdem das zulässige Höchstmaß der Freiheitsstrafe im verein-
fachten Verfahren vor einem Jugendgericht oder Jugendrichter auf zwei
Jahre an.914 Aufgrund der geringen Anzahl an Jugendgerichten und Ju-
gendrichtern wurde jedoch auch gegen Jugendliche meist im verein-
fachten Verfahren vor dem Einzelrichter verhandelt. In diesen Fällen
waren die besonderen Vorschriften über das vereinfachte Verfahren in
Jugendsachen nicht anwendbar.915
909 Gesetz vom 25. Jänner 1919 über die Errichtung von Jugendgerichten, StGBl 1919 / 46.
910 Dazu zählten gem § 1 Z 1 Gesetz über die Errichtung von Jugendgerichten insbe-
sondere alle Übertretungen unmündiger oder jugendlicher ( vierzehn- bis acht-
zehnjähriger ) Personen ( eigentliche Jugendsachen ). Zum weiteren Anwendungs-
bereich vgl Gleispach Wenzeslaus, Strafverfahren 2 108 f.
911 Vollzugsanweisung des Staatsamtes für Justiz im Einvernehmen mit dem Staats-
amte für soziale Verwaltung vom 23. September 1920 zu dem Gesetze über die Er-
richtung von Jugendgerichten, StGB 1920 / 439.
912 Verordnung des Bundesministers für Justiz vom 2. März 1923 über die Übertragung
des vereinfachten Verfahrens in Verbrechens- und Vergehenssachen jugendlicher
Personen an das Jugendgericht in Wien, BGBl 1923 / 119 sowie Verordnung des
Bundeskanzleramtes vom 3. Jänner 1925, womit die Verordnung vom 2. März 1923,
B.G.Bl. 119, über die Übertragung des vereinfachten Verfahrens in Verbrechens-
und Vergehenssachen jugendlicher Personen an das Jugendgericht in Wien abge-
ändert wird, BGBl 1925 / 24.
913 Siehe bereits § 4 Gesetz über die Errichtung von Jugendgerichten.
914 Art II der Strafprozessnovelle 1924.
915 Eine Abgrenzung, die Gleispach für » ganz ungerechtfertigt « hielt, vgl Gleispach
Wenzeslaus, Strafverfahren 2 111.
back to the
book Verkehrte Leidenschaft - Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin"
Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik