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Das österreichische Strafverfahrensrecht in der Zwischenkriegszeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
Jugendsachen kamen zur Anwendung, wenn der oder die Beschuldigte
bei Einleitung des Verfahrens das achtzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet hatte.923 Das Jugendgerichtsgesetz legte die Strafmündigkeits-
grenze bei vierzehn Jahren fest ( § 1 iVm § 9 JGG 1928 ). Personen unter
vierzehn Jahren ( Unmündige ) waren für ihre Handlungen nicht straf-
bar. Bei Personen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren ( Jugendliche )
trat zu den die Zurechnungsfähigkeit allgemein ausschließenden Grün-
den des § 2 lit a bis c StG 1852 als besonderer Grund noch die Unreife
des Verstandes oder Charakters hinzu: Konnten sie das Unrecht ihrer
Tat noch nicht einsehen, so waren Jugendliche gem § 10 JGG 1928 nicht
zu bestrafen.924
Im Verfahren wegen Verbrechen oder Vergehen war in § 34 Abs 1 Z 1
JGG 1928 für das ganze Verfahren die notwendige Verteidigung vorgese-
hen. Hatten weder der oder die Jugendliche noch der gesetzliche Vertre-
ter einen Verteidiger gewählt, musste ein solcher von Amts wegen be-
stellt werden. Wenn der oder die Jugendliche nicht in der Lage war, die
Verteidigungskosten zu tragen, war ein Armenverteidiger zu bestellen.
Die Zuständigkeit der Geschworenengerichte beschränkte sich in Ju-
gendsachen auf politische Verbrechen und Vergehen.925 Den in Jugend-
sachen entscheidenden Schöffengerichten 926 musste gem § 22 JGG 1928
eine im Lehrberuf tätige Person angehören,927 ferner sollte ihnen eine
in der Jugendfürsorge tätige oder tätig gewesene Person angehören.
War eine weibliche Jugendliche angeklagt, sollte eine Frau zur Schöffin
bestellt werden. Erstmalig sah das Jugendgerichtsgesetz 1928 auch in
der Berufungsinstanz die Beteiligung von Schöffen und Schöffinnen
923 Von allen Jugendlichen, über die im Untersuchungszeitraum vor dem Jugendse-
nat verhandelt wurde, hatten fünf im Zeitpunkt der Fällung des erstinstanzlichen
Urteils das achtzehnte Lebensjahr vollendet.
924 Siehe dazu Kadečka Ferdinand, Jugendgerichtsgesetz 77 f. Die Einschätzung von
Butschek, dass § 10 JGG 1928 » eine dem Gesetze voll entsprechend strenge Ausle-
gung « erfuhr, ist zu teilen. In keinem einzigen der hier analysierten Fälle gelangte
das Gericht wegen mangelnder Reife der beschuldigten Jugendlichen zu einem
Freispruch. Vgl Butschek Franz, Zwei Jahre österreichisches Jugendgerichtsgesetz,
ZStW 1931, 983 ( 989 ).
925 Die vollständige Ausschaltung der Geschworenengerichte in Jugendsachen schei-
terte an den verfassungsrechtlichen Vorgaben, vgl Lißbauer Karl, Das Österreichi-
sche Jugendgerichtsgesetz vom Jahre 1928, ZStW 1930, 265 ( 277 ).
926 Verordnung des Bundesministers für Justiz vom 5. Oktober 1928 über die Bildung
der besonderen Schöffenjahreslisten für Jugendsachen, BGBl 1928 / 276.
927 Der Ausschluss der Volksschullehrer vom Schöffenamt nach § 3 Z 4 Geschworenen-
listenG galt somit nicht im Strafverfahren gegen Jugendliche.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik