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Das österreichische Strafverfahrensrecht in der Zwischenkriegszeit
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
lungen herangezogen werden.932 Diesen oblag es vor allem festzustellen,
» inwieweit Anlage und Vererbung, inwieweit das Milieu auf den Ent-
wicklungsgang des Jugendlichen Einfluß genommen haben. « 933 Die Er-
hebungsberichte der Jugendämter und Jugendgerichtshilfe widmeten
sich regelmäßig den Bereichen Erziehung und Familienverhältnisse,
Schulverhältnisse, Vermögenslage und Erwerbsverhältnisse, körperli-
che und geistige Reife. Mitunter enthielten sie ergänzende Bemerkun-
gen oder erstatteten Vorschläge über die künftige Behandlung der Ju-
gendlichen.934
Für Jugendliche waren nicht dieselben Strafen vorgesehen wie für
Erwachsene. An die Stelle einer schweren oder einfachen Kerkerstrafe
trat nach § 11 JGG 1928 strenger Arrest. Statt auf lebenslange Freiheits-
strafe war auf Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren zu erkennen, das
Höchstmaß aller zeitigen Freiheitsstrafen wurde auf die Hälfte her-
abgesetzt. Die gewöhnlich mit einer Verurteilung verbundenen nach-
teiligen Folgen traten bei Jugendlichen nicht ein. Neben der Verhän-
gung von Strafen, aber auch unabhängig davon, ob eine jugendliche
Person tatsächlich bestraft wurde, konnte das Gericht gem § 2 Abs 1
JGG 1928 vormundschaftsbehördliche Verfügungen treffen. Insbeson-
dere war die Stellung Jugendlicher unter Erziehungsaufsicht oder die
Einweisung in eine Bundesanstalt für Erziehungsbedürftige möglich.
Derartige Maßnahmen setzten voraus, dass der jugendliche Täter oder
die jugendliche Täterin eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen
hatte und dies mit dem Fehlen der » nötigen Erziehung « zusammen-
hing.935 Die Entscheidung des Gerichts galt grundsätzlich bis zur Voll-
jährigkeit, konnte aber auch vorher vom Gericht geändert werden ( § 2
Abs 3 JGG 1928 ). Von dieser Möglichkeit wurde im Untersuchungszeit-
932 Nähere Vorschriften darüber enthielt die Verordnung des Bundesministers für Jus-
tiz im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler und den Bundesministern für sozi-
ale Verwaltung und für Unterricht vom 12. Dezember 1928 zur Durchführung des
Jugendgerichtsgesetzes, BGBl 1928 / 339.
933 Suchanek Viktor / Löhr Grete, Die Jugendgerichtshilfe und ihre praktische Arbeit
( 1930 ) 34.
934 Siehe statt vieler OÖLA, BG / LG Linz Sch 343, 13 Vr 752 / 29, Fragebogen vom
29. Mai 1929. Die Erhebungsberichte waren weniger formalistisch als die gericht-
lich eingeholten Schulauskünftsbögen und unterschieden sich stark im Hinblick
auf Umfang und Tiefe.
935 Eingehend dazu Kadečka Ferdinand, Jugendgerichtsgesetz 55 ff. Auf die Vorausset-
zungen einer Einweisung wies auch der Erlass vom 21. März 1929 über die Einwei-
sung junger Rechtsbrecher in die Bundesanstalten für Erziehungsbedürftige, JABl
1929 / 13, hin.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik