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232 VI. VeranlassungsgrĂĽnde der Strafverfahren
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
tung oder aus eigenen Motiven ein Interesse daran hatten, unzĂĽchtige
Handlungen zum Thema einer strafgerichtlichen Auseinandersetzung
zu machen. Es ließ sich folglich zwischen » notwendigen « behördlichen
Anzeigen und Anzeigen durch Privatpersonen unterscheiden: § 84 StPO
1873 verpflichtete alle öffentlichen Behörden und Ämter, eine strafbare
Handlung, die sie selbst wahrgenommen oder von der sie sonst erfah-
ren hatten, zur Anzeige zu bringen. Eine an Privatpersonen gerichtete
allgemeine Verpflichtung zur Anzeige von Straftaten war dem österrei-
chischen Recht dagegen fremd.947 Zeigte eine private Person eine straf-
bare Handlung allerdings freiwillig an, so hatten sowohl Staatsanwalt
wie auch Untersuchungsrichter, Bezirksrichter und Sicherheitsbehör-
den diese freiwilligen Anzeigen entgegenzunehmen.948
Die Wahrscheinlichkeit der Anzeige und Strafverfolgung hing bei
Sittlichkeitsdelikten stärker als bei anderen Delikten davon ab, ob das
gesellschaftliche Umfeld der » unzüchtig Handelnden « die inkriminier-
ten Handlungen als strafwĂĽrdig erachtete oder gar ein Interesse an der
Strafverfolgung hatte.949 Beeinflussten schon bei jenen Straftaten gegen
die Sittlichkeit, durch die Individualrechtsgüter des Opfers beeinträch-
tigt wurden, Empfindungen wie Scham und Furcht, aber auch familiäre
Bindungen oder die soziale Stellung des Täters die Anzeigebereitschaft,950
so stellte sich bei der gleichgeschlechtlichen Unzucht umso mehr die
Frage, wie derlei Fälle zur Gerichtskenntnis gelangten. § 129 I b StG
1852 pönalisierte qua Deliktskonstruktion vornehmlich einvernehmli-
che geschlechtliche Handlungen. Zur Tatbestandsverwirklichung be-
durfte es keiner Verletzung eines Individualrechtsgutes, es existierte
daher in den meisten Fällen kein » Opfer «, dem an einer Strafverfolgung
gelegen sein konnte.951 Dessen ungeachtet lagen die Verfolgungszahlen
bei gleichgeschlechtlicher Unzucht in Ă–sterreich in der Zwischenkriegs-
947 Vgl Finger August, Strafrecht I 3 566.
948 Untersuchungs- und Bezirksrichter sowie Sicherheitsbehörden mussten die Anzei-
gen gem § 86 StPO 1873 an die Staatsanwaltschaft übermitteln.
949 Vgl Filasiewicz Elisabeth, Die Kriminalität in Österreich seit dem 19. Jahrhundert, in
Ă–sterreichisches Statistisches Zentralamt ( hg ), Geschichte und Ergebnisse der zent-
ralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979 ( 1980 ) 545 ( 555 ).
950 Vgl Hommen Tanja, Sittlichkeitsverbrechen. Sexuelle Gewalt im Kaiserreich ( 1999 )
123 ff, 170 ff. Zu den Schwierigkeiten, denen Frauen begegneten, die eine Vergewal-
tigung anzeigen wollten vgl auch Oberländer Alexandra, Unerhörte Subjekte. Die
Wahrnehmung sexueller Gewalt in Russland 1880–1910 ( 2013 ) 59 ff.
951 Zu den Ausnahmen bei Fällen sexueller Gewalt und Verführung siehe unten.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik