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346 VIII. Hauptverhandlung und Urteil
Elisabeth Greif • Verkehrte
Leidenschaft¶
» feierlichen Ernst und Vermeidung jeder Leidenschaftlichkeit in der
Form der Fragestellung « 1575. Unziemliches Verhalten seitens der Ange-
klagten stellte eine Gefahr für das Ansehen des Gerichts dar, auf das der
Vorsitzende gem § 234 StPO 1873 mit sitzungspolizeilichen Maßnahmen
reagieren sollte. Allerdings schien die Würde des Gerichts nicht minder
durch Richter gefährdet, die die ihnen übertragene staatliche Macht
missbrauchten oder bei Vernehmungen » nach äußerlichem Effecte « 1576
strebten. Wiederholt ermahnte das Justizministerium die Richterschaft,
» unpassende Witzeleien « zu unterlassen, die Angeklagten nicht zu ver-
höhnen oder bereits als der Tat überwiesen zu betrachten,1577 und die
Verhandlung weder als Bühne für den eigenen Scharfsinn noch die ei-
gene Gewandtheit zu missbrauchen. Den Angeklagten – insbesondere
den weiblichen – sollte anständig begegnet und » nur solche Formen der
Ansprache und des Benehmens gewählt werden [ . ], die dem Ernste des
Gerichtssaales angemessen sind « 1578. Vor allem sollte der Vorsitzende
seine Überlegenheit gegenüber dem » in der Regel unerfahrenen, des
Rechts nicht kundigen und nicht selten physisch wie psychisch vernich-
teten Angeklagten « 1579 nicht ausnutzen.
Die Vernehmung der Angeklagten sollte den Richtern ein Bild ihrer
Persönlichkeit vermitteln und die Grundsätze des rechtlichen Gehörs
und der Waffengleichheit verwirklichen.1580 Hatten Angeklagte einen
Verteidiger, so war dieser in der Hauptverhandlung ohne Beschränkung
zugelassen. Den Angeklagten war während der Hauptverhandlung die
Besprechung mit dem Verteidiger zu gestatten, allein eine unmittelbare
1575 Mayer Salomon, Handbuch II 216.
1576 Mayer Salomon, Handbuch II 216.
1577 JME vom 3. November 1892, Z. 22082. Der Inhalt des Erlasses findet sich wiederge-
geben in JABl 1907, 105 f.
1578 JME vom 12. April 1907, Z. 9282, JABl 1907, 105 f. Die österreichische Richterschaft
zeigte sich über den Erlass nicht sehr erfreut, musste aber zugeben, » daß in den letz-
ten Jahren Prozesse, die in der Öffentlichkeit Sensation hervorgerufen haben, nicht
in einwandfreier Weise geleitet wurden «, Rapp Leander, Kritisch Bemerkungen zum
Justizministerialerlasse über die Leitung der Verhandlungen im Strafverfahren, Mit-
teilungen der Vereinigung der österreichischen Richter 1907 / 3, 5. Allerdings wurde
betont, dass es sich dabei um Einzelfälle gehandelt habe. Auch in der Ersten Repu-
blik schien es notwendig, an den der Würde des Gerichts und dem bei mündlichen
Verhandlungen gebotenen Anstand zu erinnern und etwa darauf hinzuweisen, dass
es während mündlicher Verhandlungen nicht angebracht war, » zu rauchen oder das
Rauchen zu gestatten. «, Bundesministerium für Justiz ( hg ), Geschäftsordnung 58.
1579 Mayer Salomon, Handbuch II 216.
1580 Vgl Lohsing Ernst, Strafprozeßrecht 3 344; Vargha Julius, Das Strafprozessrecht 2 ( 1907 )
42 ff.
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik