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Sprechen vor Gericht
Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft ¶
normaler « 1611 Veranlagung oder » Willensschwäche « 1612. Das öffentliche
Sprechen über Intimitäten war für die meisten Angeklagten ungewohnt
und irritierend. Die Sprachlosigkeit erstreckte sich freilich, wenn es um
Sexuelles ging, auch auf die Organe der Strafverfolgungsbehörden. In
den Protokollen finden sich daher dialektgefärbte Derbheiten neben
sexualwissenschaftlichem » Fachvokabular «.1613
Die Hauptverhandlungsprotokolle ließen die Antworten der Ange-
klagten vielfach widersprüchlich, ziellos oder eigentümlich distanziert
erscheinen.1614 Dies hatte seinen Grund in der Art des Protokollierens
und den dafür bestehenden Vorschriften: Anders als bei den während des
Vorverfahrens angefertigten Protokollen handelte es sich beim Haupt-
verhandlungsprotokoll nicht um ein Inhalts-, sondern um ein Förmlich-
keitsprotokoll.1615 Es hatte die Namen der anwesenden Mitglieder des
Gerichtshofes, der Parteien und ihrer Vertreter zu enthalten und alle we-
sentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens 1616 zu beurkunden. Fragen des
1611 OÖLA, BG / LG Linz Sch 508, 6 Vr 1959 / 37, Hauptverhandlung vom 23. Septem-
ber 1937.
1612 Vgl OÖLA, BG / LG Linz Sch 493, 6 Vr 110 / 37, Hauptverhandlung vom 9. Februar 1937.
1613 Vor allem jugendlichen Angeklagten standen zur Benennung intimer Handlun-
gen hauptsächlich derbe Ausdrücke zur Verfügung, siehe etwa OÖLA, BG / LG Linz
Sch 319, Vr VI E 1561 / 26, Hauptverhandlung vom 21. Dezember 1926: Die Befragung
durch den Vorsitzenden drehte sich auch darum, ob der fünfzehnjährige Ange-
klagte Johann Sch. an dem fünfeinhalbjährigen Ludwig R. unzüchtige Handlun-
gen begangen und dabei den Ausdruck » pudern « gebraucht hatte. Zu sprachlichen
Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Sexualdelikten vgl Bausinger Hermann in
Köstlin Konrad ( hg ), Recht 17.
1614 So etwa die im Hauptverfahren protokollierten Antworten des 42-jährigen Knech-
tes Karl Br.: » Ich bekenne mich der mir in der Anklage zur Last gelegten Tat schul-
dig. Ich gehe nicht zu einem Mädel, weil ich krank bin, ich will aber schon zu
einem Mädel gehen. Ich habe das Hosentürl aufgemacht und mein Glied heraus-
genommen, weil ich ein bisserl eine Unterhaltung haben wollte. Ich habe den
Franz W. deshalb abgeküsst, weil er mir wegen einem Posten behilflich gewesen
war. Ich war dabei nicht erregt. Es ist nicht richtig, dass ich die in der Anklage mir
zur Last gelegten Handlungen sieben Mal versuchte. Ich gehe schon manchmal zu
einem Mädel um zu verkehren. «, OÖLA, BG / LG Linz Sch 514, 6 E Vr 82 / 38, Haupt-
verhandlung vom 7. Februar 1938.
1615 § 271 StPO 1873 verlangte bei sonstiger Nichtigkeit die Anfertigung eines Protokolls
der Hauptverhandlung.
1616 Dazu zählten insbesondere die Beeidigung der Schöffinnen und Schöffen; welche
Zeuginnen und Zeugen beziehungsweise Sachverständige vernommen, ob sie be-
eidigt worden waren oder aus welchen Gründen die Beeidigung unterblieben ist;
welche Aktenstücke verlesen worden waren; alle Anträge der Parteien sowie die
Entscheidungen des Vorsitzenden oder des Gerichtes über diese Anträge und die
Gründe dafür, vgl Gleispach Wenzeslaus, Strafverfahren 2 243. Wiederholt rügten
Erlässe die » Willkürlichkeit, Omnipotenz und [ den ] Schlendrian « bei der Proto-
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik