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Elisabeth Greif • Verkehrte Leidenschaft 393
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X. Schlussbetrachtung
A. Vom Wissen über Unzucht und Unzüchtige
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aus einem Straftatbestand, bei dem
noch fünfzig Jahre zuvor die » liberale Haltung der Strafrichter [ … ] nach-
haltigsten Ausdruck « 1783 gefunden hatte, ein Verbrechen geworden, bei
dessen Ahndung die österreichischen Sicherheitsbehörden und Gerichte
im europäischen Spitzenfeld lagen.1784 Diese Entwicklung vollzog sich vor
dem Hintergrund vielfältiger Aushandlungs- und Verhandlungsprozesse
des Straftatbestands der » widernatürlichen Unzucht «. Solange sich die
Vertreter der gerichtlichen Medizin darauf beschränkt hatten, Staatsan-
wälte, Richter und Verteidiger über die verräterischen Zeichen zu beleh-
ren, die die » widernatürliche Geschlechtsbefriedigung « an den Körpern
der » unzüchtig Handelnden « hinterließ, hatten sich Wissen und Spre-
chen über den Unzuchtsverkehr hauptsächlich auf die Frage des Nach-
weises der Tat konzentriert. Dies änderte sich mit dem Aufstieg der Se-
xualwissenschaft. Es schwand der Glaube, dass sich der Unzuchtsverkehr
auf untrügliche Weise in die Körper der » Unzüchtigen « einschrieb. Statt-
dessen verlagerte sich das wissenschaftliche Interesse auf jenen » dunk-
len [ . ] eingeborenen Drang « 1785, der schließlich als » konträre Sexualemp-
findung « Bekanntheit erlangen sollte. Sexualwissenschafter wie Westphal,
Krafft-Ebing oder Moll richteten den Blick weniger auf körperliche Spuren
des Unzuchtsverkehrs, als vielmehr auf körperliche Hinweise auf eine
» perverse « Veranlagung, auf die psychische Verfassung der Konträrsexu-
alen und auf die Lust, die bei der widernatürlichen Unzucht gesucht und
gefunden wurde. Dabei vermochten sich die sexualwissenschaftlichen
Erkenntnisse von zeitgenössischen Vorstellungen von Weiblichkeit und
Männlichkeit allerdings nicht zu lösen: Das gleichgeschlechtliche Be-
gehren war eben nur als » konträrsexuelles « versteh- und erklärbar und
wurde auf eine seelisch-leibliche Geschlechtsverkehrung zurückgeführt.
1783 Hartl Friedrich, Kriminalgericht 357.
1784 Vgl Weingand Hans-Peter, Invertito Jahrbuch für die Geschichte der Homosexuali-
täten 2011, 53.
1785 Casper Johann Ludwig, Novellen 34 ( Hervorhebung im Original ).
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Verkehrte Leidenschaft
Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
Aus- und Verhandlungsprozesse vor dem Landesgericht Linz 1918 – 1938
- Title
- Verkehrte Leidenschaft
- Subtitle
- Gleichgeschlechtliche Unzucht im Kontext von Strafrecht und Medizin
- Author
- Elisabeth Greif
- Publisher
- Jan Sramek Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7097-0205-5
- Size
- 15.0 x 23.0 cm
- Pages
- 478
- Category
- Recht und Politik