Page - 7 - in Grigia
Image of the Page - 7 -
Text of the Page - 7 -
der Welt, geprüft, was für ein Mensch man sei, – ob verläßlich, mächtig und
zu fürchten oder zierlich und schön, – sondern was immer für ein Mensch
man war und wie immer man ĂĽber die Dinge des Lebens dachte, man fand
Liebe, weil man den Segen gebracht hatte; sie lief wie ein Herold voraus, sie
war ĂĽberall wie ein frisches Gastbett bereitet, und der Mensch trug
Willkommgeschenke in den Augen. Die Frauen durften das frei ausströmen
lassen, aber manchmal, wenn man an einer Wiese vorbeikam, vermochte auch
ein alter Bauer dort zu stehn und winkte mit der Sense wie der leibhafte Tod.
Es lebten ĂĽbrigens merkwĂĽrdige Leute in diesem Talende. Ihre Voreltern
waren zur Zeit der tridentinischen Bischofsmacht als Bergknappen aus
Deutschland gekommen, und sie saĂźen heute noch eingesprengt wie ein
verwitterter deutscher Stein zwischen den Italienern. Die Art ihres alten
Lebens hatten sie halb bewahrt und halb vergessen, und was sie davon
bewahrt hatten, verstanden sie wohl selbst nicht mehr. Die Wildbäche rissen
ihnen im Frühjahr den Boden weg, es gab Häuser, die einst auf einem Hügel
und jetzt am Rand eines Abgrunds standen, ohne daĂź sie etwas dagegen taten,
und umgekehrten Wegs spülte ihnen die neue Zeit allerhand ärgsten Unrat in
die Häuser. Da gab es billige polierte Schränke, scherzhafte Postkarten und
Ă–ldruckbilder, aber manchmal war ein Kochgeschirr da, aus dem schon zur
Zeit Martin Luthers gegessen worden sein mochte. Sie waren nämlich
Protestanten; aber wenn es wohl auch nichts als dieses zähe Festhalten an
ihrem Glauben war, was sie vor der Verwelschung geschĂĽtzt hatte, so waren
sie dennoch keine guten Christen. Da sie arm waren, verlieĂźen fast alle
Männer kurz nach der Heirat ihre Frauen und gingen für Jahre nach Amerika;
wenn sie zurĂĽckkamen, brachten sie ein wenig erspartes Geld mit, die
Gewohnheiten der städtischen Bordelle und die Ungläubigkeit, aber nicht den
scharfen Geist der Zivilisation.
Homo hörte gleich zu Beginn eine Geschichte erzählen, die ihn ungemein
beschäftigte. Es war nicht lange her, mochte so etwa in den letzten fünfzehn
Jahren stattgefunden haben, daĂź ein Bauer, der lange Zeit fortgewesen war,
aus Amerika zurĂĽckkam und sich wieder zu seiner Frau in die Stube legte. Sie
freuten sich einige Zeit, weil sie wieder vereint waren, und lieĂźen es sich gut
gehen, bis die letzten Ersparnisse weggeschmolzen waren. Als da die neuen
Ersparnisse, die aus Amerika nachkommen sollten, noch immer nicht
eingetroffen waren, machte sich der Bauer auf, um – wie es alle Bauern dieser
Gegend taten – den Lebensunterhalt draußen durch Hausieren zu gewinnen,
während die Frau die uneinträgliche Wirtschaft wieder weiter besorgte. Aber
er kehrte nicht mehr zurück. Dagegen traf wenige Tage später auf einem von
diesem abgelegenen Hofe der Bauer aus Amerika ein, erzählte seiner Frau auf
den Tag genau, wie lange es her sei, verlangte zu essen, was sie damals am
Tag des Abschieds gegessen hatten, wuĂźte noch mit der Kuh Bescheid, die
7
back to the
book Grigia"
Grigia
- Title
- Grigia
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1924
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 21
- Categories
- Weiteres Belletristik