Page - 10 - in Grigia
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nicht sterben sollte, nur einer. Das kam ihm in diesem Augenblick so
wundervoll unsinnig und unpraktisch vor, wie es nur eine tiefe Religion sein
kann. Und er erkannte jetzt erst, was er getan hatte, indem er sich für diesen
Sommer absonderte und von seiner eigenen Strömung treiben ließ, die ihn
erfaßt hatte. Er sank zwischen den Bäumen mit den giftgrünen Barten aufs
Knie, breitete die Arme aus, was er so noch nie in seinem Leben getan hatte,
und ihm war zu Mut, als hätte man ihm in diesem Augenblick sich selbst aus
den Armen genommen. Er fühlte die Hand seiner Geliebten in seiner, ihre
Stimme im Ohr, alle Stellen seines Körpers waren wie eben erst berührt, er
empfand sich selbst wie eine von einem anderen Körper gebildete Form. Aber
er hatte sein Leben außer Kraft gesetzt. Sein Herz war demütig vor der
Geliebten und arm wie ein Bettler geworden, beinahe strömten ihm Gelübde
und Tränen aus der Seele. Dennoch stand es fest, daß er nicht umkehrte, und
seltsamerweise war mit seiner Aufregung ein Bild der rings um den Wald
blühenden Wiesen verbunden, und trotz der Sehnsucht nach Zukunft das
Gefühl, daß er da, zwischen Anemonen, Vergißmeinnicht, Orchideen, Enzian
und dem herrlich grünbraunen Sauerampfer, tot liegen werde. Er streckte sich
am Moose aus. »Wie Dich hinübernehmen?« fragte sich Homo. Und sein
Körper fühlte sich sonderbar müd wie ein starres Gesicht, das von einem
Lächeln aufgelöst wird. Da hatte er nun immer gemeint, in der Wirklichkeit
zu leben, aber war etwas unwirklicher, als daß ein Mensch für ihn etwas
anderes war als alle anderen Menschen? Daß es unter den unzähligen Körpern
einen gab, von dem sein inneres Wesen fast ebenso abhing wie von seinem
eigenen Körper? Dessen Hunger und Müdigkeit, Hören und Sehen mit seinem
zusammenhing? Als das Kind aufwuchs, wuchs das, wie die Geheimnisse des
Bodens in ein Bäumchen, in irdisches Sorgen und Behagen hinein. Er liebte
sein Kind, aber wie es sie überleben würde, hatte es noch früher den
jenseitigen Teil getötet. Und es wurde ihm plötzlich heiß von einer neuen
Gewißheit. Er war kein dem Glauben zugeneigter Mensch, aber in diesem
Augenblick war sein Inneres erhellt. Die Gedanken erleuchteten so wenig wie
dunstige Kerzen in dieser großen Helle seines Gefühls, es war nur ein
herrliches, von Jugend umflossenes Wort: Wiedervereinigung da. Er nahm sie
in alle Ewigkeiten immer mit sich, und in dem Augenblick, wo er sich diesem
Gedanken hingab, waren die kleinen Entstellungen, welche die Jahre der
Geliebten zugefügt hatten, von ihr genommen, es war ewiger erster Tag. Jede
weltläufige Betrachtung versank, jede Möglichkeit des Überdrusses und der
Untreue, denn niemand wird die Ewigkeit für den Leichtsinn einer
Viertelstunde opfern, und er erfuhr zum erstenmal die Liebe ohne allen
Zweifel als ein himmlisches Sakrament. Er erkannte die persönliche
Vorsehung, welche sein Leben in diese Einsamkeit gelenkt hatte, und fühlte
wie einen gar nicht mehr irdischen Schatz, sondern wie eine für ihn
bestimmte Zauberwelt den Boden mit Gold und Edelsteinen unter seinen
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book Grigia"
Grigia
- Title
- Grigia
- Author
- Robert Musil
- Date
- 1924
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 21
- Categories
- Weiteres Belletristik