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Sittlichkeit. 611
engeren Kreisen bereitet sich die S. allmählich auf immer weitere aus;
auch über die bloße Förderung der des Sozialen im engeren
Sinne hinaus erstreckt sich die sittliche Forderung. Sie verlangt: Verhalte
dich in deinem Wollen und Handeln so, daß du dich dadurch zu einem
möglichst wertvollen Mitglied einer idealen Gemeinschaft, d. h.
einer Gemeinschaft als der Einheit wahrer Persönlichkeiten machst,
zu einem Bürger des idealen „Reichs der Zwecke" (s. d.), einer idealen
deren höchstes Ziel die harmonisch-reichste
Entfaltung der reinen Menschlichkeit und des in ihr zum
Ausdruck kommenden Geisteslebens ist. Die Idee der reinen Sittlich-
keit, das sittliche Ideal ist etwas Apriorisches, ihr aus beurteilen wir die
einer Entwicklung unterworfenen historischen Gestaltungen der Moral, welche
von der sozialen Struktur, von der Bildungsstufe der Menschen, der Erkenntnis
tauglicher Mittel zum Sittlichkeitszwecke, der Verfeinerung des Gefühls u. a.
abhängig sind, bei aller Verschiedenheit aber auch einen Grundstock sittlicher
Normen aufweisen. Gegenüber der positiven Moralität ist die ideale Sittlichkeit
„Selbstzweck", denn sie schließt das Postulat einer „vollkommenen" Menschheit
und Menschlichkeit ein, die allerdings noch — metaphysisch-religiös — sich der
obersten Einheit des (dem „Weltzweck") unterordnet, dessen Geistesleben
das menschliche einschließt. Die sittlichen Normen setzt der reine
wille, der in den versittlichten Individuen sich gefühls- und triebmäßig an-
kündigt und in den Personalwillen aufgenommen wird, durch Erziehung und
eigene Wertung (s. Gewissen, Pflicht, Imperativ, Autonomie).
Das Sittliche wird teils auf Gefühle (Gefühlsmoral), teils auf Vernunft,
Reflexion, teils auf Intuition, teils auf den Willen oder auf Wertung zurückge-
führt; es wird teils als angeboren, ursprünglich, teils als erworben, entwickelt
(ethischer Empirismus, Evolutionismus), teils als apriorisch betrachtet. Als
des sittlichen Handelns gilt teils das (eigene oder fremde) Individuum (ethischer
Individualismus), teils die (soziale oder ideale) Gemeinschaft (ethischer Univer-
salismus), teils beides. Als sittlicher Zweck gilt teils die (Eudä-
monismus), das Nützliche (Utilitarismus), die Lust (Hedonismus), teils die
individuelle Vervollkommnung (Perfektionismus), die Tüchtigkeit, Betätigung
(Energismus), teils die biotische, geistige, kulturelle, humane Entwicklung
(Evolutionismus im engeren Sinne, teleologischer Idealismus), teils wird das
Sittliche in die bloße Willensbeschaffenheit verlegt (ethischer Formalismus,
formaler Idealismus). Als Kriterium des Sittlichen gilt selten mehr der bloße
Erfolg, meist die Gesinnung, oft mit dem Erfolge oder der Handlung und
deren Ziel selbst verbunden. Als sittliche Motive gelten teils der Altruismus
(s. teils der Egoismus (s. d.). Endlich gibt es eine autonome und eine
autoritative Ethik (s. d.).
In der chinesischen Ethik von KONFUTSE die Menschenliebe und
Gemeinnützigkeit betont, in der indischen kommt die Mitleidsmoral zur
Geltung (Buddhismus), in der jüdischen und christlichen die Idee der
Gottesfurcht und der Nächstenliebe, die Humanitätsidee. Die Tüchtigkeit des
Individuums im Dienste seiner Gemeinschaft fordert die germanische wie
die griechische und römische Moral. In der griechischen Philosophie
kommen zunächst verschiedene Formen des Eudämonismus (s. d.) zur Geltung.
So bei DEMOKRIT, der die Glückseligkeit (s. d.) in die ruhige, frohe Seelen-
stimmung setzt das Wirken für das Gemeinwesen und den
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Handwörterbuch der Philosophie
- Title
- Handwörterbuch der Philosophie
- Author
- Rudolf Eisler
- Publisher
- ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN
- Location
- Berlin
- Date
- 1913
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- Size
- 12.7 x 21.4 cm
- Pages
- 807
- Keywords
- Philosophie, Geisteswissenschaften, Objektivismus
- Category
- Geisteswissenschaften