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Soziologie.
Ethnologie, Psychologie (s. Sozial-, Völkerpsychologie), die vergleichende
Religions-, Rechts-, Moralwissenschaft, Sprachwissenschaft, die Nationalökonomie,
die Geschichtswissenschaft u. a.; die einzelnen Sozialwissenschaften geben ihr
das Material für ihre Abstraktionen, Analysen und Synthesen. Alle diese
Disziplinen (auch die Erkenntnislehre, Ästhetik, Ethik u. a.) gewinnen viel
durch Einführung des soziologischen Gesichtspunktes als Ergänzung ihrer
eigenen Erklärungsweise. Für das Verständnis der sozialen Phänomene ist
besonders die psychologische Erklärung wichtig. Doch sind die sozialen Gebilde
(Recht, Wirtschaft, Sitte usw.) und Institutionen nicht subjektiv-psychologische
Tatsachen, sondern sie haben, aus der Wechselwirkung seelischer Wesen er-
wachsend, eine „intersubjektive", überindividuelle, eigene, relativ selbständige
Realität Wirksamkeit mit besonderen Entwicklungstendenzen und Ge-
setzlichkeiten, und sie bedingen das psychische Einzelleben (s. Geist,
objektiver). — Die Gesellschaft ist (abstrakt) der Inbegriff sozialer Wechsel-
beziehungen oder (konkret) die Vereinigung der vergesellschafteten Individuen
selbst, genauer eine durch gemeinsame Bedürfnisse, Tendenzen, Interessen, Ziele
zu einer Einheit des Seins und Wirkens verbundene Gesamtheit von Individuen
und Gruppen. Die des Wirkens umfaßt, je nachdem, ein Zusammen-
leben, Zusammenwirken (Kooperation), ein gegeneinander Wirken, ein sich Unter-
stützen, Bekämpfen, eine Unter- und Überordnung usw. Die soziale Ver-
bindung kann vorübergehend, flüchtig oder dauernd sein, sie kann rein
lich bedingt, erzwungen sein (Zwangsgemeinschaft) oder innerlich, spontan,
freiwillig sein. Sie kann ferner durch rein naturhafte Faktoren (Milieu, Rasse,
gleiche Abstammung, Verwandtschaft, sozialisierende Instinkte und
Geselligkeitstrieb, Schutztrieb u. a.; oder durch be-
wußte) Interessen, Willensziele, Konventionen bedingt sein (Kulturgesell-
schaft). Die Gemeinsamkeit der Abstammung, des Ortes, der Bedürfnisse,
der Anschauungen usw. erzeugt die organische Gemeinschaft im Unter-
schiede von der durch bloße Interessen, äußerliche Konvention ver-
bundenen Gesellschaft im engeren Sinne (TÖNNIES, WUNDT, S. unten); der
Weg führt von der Naturgemeinschaft durch die Gesellschaft hindurch zu der
universalen, idealen Kulturgemeinschaft der sich auf die
menschlichen Kulturziele besinnenden, solidarischen Menschheit (vgl. Sittlich-
keit, Humanität). Von Anfang an ist es der (erst triebhafte, später
bewußte) „Einheitswille", der die Gruppen zusammenschließt und deren Be-
ziehungen ordnet, regelt. Innerhalb der Gemeinschaft erwächst erst und
erstarkt die Individualität, und wirkt dann auf die Gesamtheit zurück. Indi-
viduen und Gesamtheit bedingen und fördern einander wechselseitig, und so ist
das sozial-individuale die größtmögliche Sozialität und Solidarität
möglichst kraftvoller Individuen; aus diesem Ideal fließt eine Reihe sozialer
Forderungen, Normen. Das Postulat höchster Solidarität bedingt auch An-
strengungen zugunsten der Kräftigung der Schwachen durch
der Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse und die möglichste Er-
setzung der brutalen Naturauslese und Ergänzung der rein passiven Sozial-
auslese durch eine kulturelle, menschliche Energien sparende, erhöhende und
der Gesamtheit möglichst dauernd erhaltende Sozialpolitik (s. Ökonomie:
R. GOLDSCHEID). Das soziale Ideal verlangt die Vereinigung wahrer, indi-
viduell entwickelter, „freier", Menschen, und nur eine solche Gesellschafts-
ordnung ist ideal die richtige, die für eine Entfaltung voller -
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book Handwörterbuch der Philosophie"
Handwörterbuch der Philosophie
- Title
- Handwörterbuch der Philosophie
- Author
- Rudolf Eisler
- Publisher
- ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN
- Location
- Berlin
- Date
- 1913
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- Size
- 12.7 x 21.4 cm
- Pages
- 807
- Keywords
- Philosophie, Geisteswissenschaften, Objektivismus
- Category
- Geisteswissenschaften