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überlegungen zu michelangelo als Holzbildhauer 51
Es war Margrit Lisner, die in einem im Konvent
von Santo Spirito in Florenz aufbewahrten Kru-
zifix den von Ascanio Condivi beschriebenen
von der Hand Michelangelos erkannte und ihn
ins Jahr 1494 oder die Zeit unmittelbar davor da-
tierte, genauer gesagt vor Michelangelos Flucht
aus Florenz im Oktober dieses Jahres (Abb. 1, 2).8
Von Ausnahmen abgesehen, hat die Forschung
diese Zuschreibung akzeptiert.9
Jüngste Erkenntnisse zur Assemblagetechnik
– vor allem in den Studien von Peter Stiberc –
ermöglichen neue Überlegungen zur Vorberei-
tung des Holzblocks, den Michelangelo für sein
Kruzifix in Santo Spirito benutzt hat. Während
der letzten drei Jahrzehnte des Quattrocento
sah die in Florenz am weitesten verbreitete Me-
thode der Assemblage von Holzelementen für
die Bildhauerei einen Block vor, der aus zwei
oder mehr miteinander verleimten Brettern zu-
sammengefügt war. Auf diese Weise konnte das
nötige Volumen für die Ausarbeitung der Figur
erreicht und gleichzeitig eine Verformung des
Holzes vermieden werden, wie sie aus den oben
dargelegten Gründen drohte. Es liegt auf der
Hand, daß ein derartig vorbereiteter Holzblock
in seiner Bearbeitung Ähnlichkeiten mit einem Steinblock aufweist. Zudem machte er bestimm-
te Vorsorgemaßnahmen hinsichtlich der Konser-
vierung überflüssig, wie etwa die Aushöhlung der
Rückenpartie der Figur. Eine solche war beim
Einsatz eines massiven Holzblocks notwendig,
um dessen Verziehen zu vermeiden.
Diese Praxis der Assemblage ist auch beim
Kruzifix aus Santo Spirito erkennbar, das (die
Arme ausgenommen) durch das Entfernen von
Material von einem aus drei Brettern zusammen-
geleimten Block entstand (Abb. 3, 4). Eine erste
Rekonstruktion der Blockverleimung ist Ugo
Procacci und Umberto Baldini zu verdanken,
die eine im Voraus vorbereitete Verbindung von
Brettern schon vermuteten.10 Anders als Procacci
und Baldini annahmen, glaube ich aber nicht, es
sei Michelangelo selbst gewesen, der die Verlei-
mung der Bretter zu einem Block vorgenommen
hat. Wahrscheinlicher ist, daß ihm der Holzblock
von der Werkstatt eines Holzhandwerkers oder
-bildhauers geliefert wurde. In Frage kommt
etwa die des Benedetto da Maiano, mit dem er
anscheinend schon vor der Ausführung des Ge-
kreuzigten von Santo Spirito zusammengearbei-
tet hat.11 Zudem muß berücksichtigt werden, daß
Benedetto da Maiano neben seiner Tätigkeit als
DAS KRUZIFIX IN SANTO SPIRITO
8 Vgl. M. Lisner, Michelangelos Kruzifixus aus S. Spirito in Florenz, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 15,
1964, S. 7–36. Der Artikel mit einem beigefügten Bericht über die Restaurierung von Ugo Procacci und Umberto
Baldini wurde im gleichen Jahr ins Italienische übertragen: M. Lisner, Il Crocifisso di Michelangelo in Santo
Spirito a Firenze, München 1964. In einem späteren Beitrag zum Kruzifix aus Santo Spirito grenzt Lisner die wahr-
scheinliche Entstehungszeit genauer ein: zwischen Frühjahr 1493 und Herbst 1494. Im Alter von achtzehn oder
neunzehn Jahren hätte demnach Michelangelo das Werk geschaffen. Vgl. M. Lisner, Il Crocifisso di Michelangelo
per il vecchio coro della Chiesa di Santo Spirito a Firenze, in: Il Crocifisso di Santo Spirito, Florenz 2000, S. 36.
9 Zum Dissens der Forschung bezüglich Lisners Zuschreibung vgl. K. Weil-Garris Brandt/E. Capretti, in: K.
Weil-Garris Brandt/C. Acidini/J. D. Draper/N. Penny (Hrsg.), Giovinezza di Michelangelo, Ausstellungskata-
log, Florenz, Palazzo Vecchio und Casa Buonarroti, 06.10.1999–09.01.2000, Mailand 1999, S. 288; L. Lucchesi, La
fortuna critica del Crocifisso di Santo Spirito, in: Lisner, Il Crocifisso di Santo Spirito (zit. Anm. 8), S. 23–29. Das
Buch enthält auch ein interessantes Kapitel über die Aufbewahrung des Kruzifix nach seiner Restaurierung bis zum
Jahr 2000 im Museo di Casa Buonarroti in Florenz, vgl. R. C. Proto Pisani, Da Casa Buonarroti a Santo Spirito:
un caso esemplare di muesealizzazione, in: ebenda, S. 98–109.
10 Vgl. U. Procacci/U. Baldini, Il restauro del Crocifisso di Santo Spirito, in: Lisner, Il Crocifisso di Michelangelo
(zit. Anm. 8), S. 31.
11 Die Zusammenarbeit Michelangelos mit Benedetto da Maiano wurde von M. Lisner für den Putto zur Rechten des
Verkündigungsaltars der Kapelle der Familie Correale di Terranuova in der neapolitanischen Kirche Santa Maria di
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Volume LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Volume
- LIX
- Editor
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German, English
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Size
- 19.0 x 26.2 cm
- Pages
- 280
- Keywords
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Category
- Kunst und Kultur