Page - 220 - in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Volume LIX
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BRIEFE von Johannes Wilde AUS wIEN, juni 1920 bis februar
1921220
Zum Briefwechsel ist anzumerken, daß es
sich um private Briefe handelt, die vom in die
Fremde fortgerissenen Sohn an den zu Hause
gebliebenen Rest der Familie geschrieben wur-
den. Dieser Aspekt wird dadurch verstärkt, daß
Johannes als der mit einigen Jahren Jüngste eine
besondere Stellung einnimmt. Er ist dement-
sprechend bemüht, das Gefühl der Sicherheit zu
vermitteln, daß es ihm gut gehe, daß er sich auf
seine Kollegen – insbesondere auf Max Dvořák,
der ihn protegiere – verlassen könne, um so die
Zuhausegebliebenen zu beruhigen.
Es ist selbstverständlich äußerst problema-
tisch, private Briefe zu publizieren. Sie sind aus-
drücklich nur für die Adressaten bestimmt. Sie
sind aber im Falle des Wilde-Briefwechsels für
uns eine seltene Möglichkeit, die Stimmung je-
ner Jahre nachzuvollziehen. Privates und wissen-
schaftlich Relevantes sind hier so stark verzahnt,
daß eine Trennung nicht möglich zu sein scheint,
es ist sogar vielfach das Private das hier Rele-
vante. Die beträchtliche zeitliche Distanz zum
Zeitpunkt der Abfassung der Briefe erleichtert
ebenfalls die Entscheidung für eine Publikation,
insbesondere weil Schreiber und Adressaten ohne
Nachkommen verstorben sind, so daß die Brie-
fe als historische Dokumente betrachtet werden
können, ohne die Privatsphäre der Familie Wilde
zu verletzen. In den Briefen wird viel und oft über
Krankheit, Essen – offenbar wurde Johannes auf-
getragen, genau darüber zu berichten, wo und
was er ißt –, mehrere ineinandergreifende Netz-
werke von Freunden und Kollegen geschrieben,
was für einen heutigen Leser nicht nur irrelevant,
sondern auch verwirrend erscheinen könnte. Das
sind jedoch genau die Details, die die damalige
Situation greifbar und verständlich machen, nicht
zuletzt durch das Spürbarwerden der Distanz zwi-
schen den damaligen und unseren gegenwärtigen
Selbstverständlichkeiten. Sie machen das Aus-
maß des Elends kurz nach dem Kriegsende und
seine, wissenschaftliche Karrieren und Projekte
prägende Rolle deutlich. Man laborierte an der
Tuberkulose, litt an Depressionen, starb an der spanischen Grippe und lebte im ständigen Be-
wußtsein der Allgegenwart dieser Drohungen.
So erhält jeder Wetterumschwung und jede Er-
kältung Dimensionen, die dem heutigen Leser
erst durch ihre wiederholte Erwähnung begreif-
bar gemacht werden können. Die ständige Beto-
nung der emotionellen Bindung an Verwandte
und Freunde zeigt die Enge der Netzwerke, die
in diese investierte Energien, die nicht nur den
beruflichen Fortgang, sondern vielfach auch die
bloße Existenz – also: Obdach, Wärme, Nahrung
– sichern sollten. Obwohl hier nur eine Auswahl
an Briefen veröffentlicht werden kann, werden
aber zumindest diese Briefe in ihrem vollen Um-
fang abgedruckt. Eine Auswahl von „relevanten“
Stellen aus den einzelnen Briefen hätte den sie ge-
staltenden Sinn stark verzerrt und zum Verlust an
Sub(kon)text, der für das Verständnis der jeweils
geschilderten Situation wesentlich ist, geführt.
Der Wilde-Briefwechsel ist ein Zeitdoku-
ment, das präzise Angaben über die Entwicklung
von wissenschaftlichen Projekten, über die an
diesen beteiligten Personen und involvierten In-
stitutionen enthält. Sein Reichtum an Daten, die
sowohl ansonsten schwer nachvollziehbare Ge-
schehnisse schlüssig erklären als auch jene Vorha-
ben festhalten, die zwar nicht umgesetzt wurden,
aber dennoch als Alternative, als Konkurrenzpro-
jekt das schließlich Erreichte mitformten, recht-
fertigt die Publikation allemal.
Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
Volume LIX
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte
- Volume
- LIX
- Editor
- Bundesdenkmalamt Wien
- Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German, English
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78674-0
- Size
- 19.0 x 26.2 cm
- Pages
- 280
- Keywords
- research, baroque art, methodology, modern art, medieval art, historiography, Baraock, Methodolgiem, Kunst, Wien
- Category
- Kunst und Kultur