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Leibarzt zweier Kaiser, der seinen Herrschern treu verbunden war, kann man
Verständnis für revolutionäres Denken wohl kaum verlangen. Freilich be-
hauptet Puschmann, dass es den Revolutionären der Medizin nicht um Poli-
tik gegangen sei, die Anhänger der „jungen Wiener Schule“ der Medizin
„standen fast sämtlich dem politischen Treiben fern und sahen ihre Aufgabe
darin, den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern.“ Mit der Macht der
rasch voranschreitenden Wissenschaft im Rücken hätte, so Puschmann, die
fortschrittsgläubige junge Wiener Schule, die „der Zeit und der fortschrei-
tenden Erkenntnis der Menschen“ vertraute, früher oder später sowieso „den
Sieg davongetragen, auch wenn die politischen StĂĽrme d. J. 1848 nicht in
gewaltsamer Weise die Vergangenheit hinweggefegt hätten.“43 Nun ja, ein
Wissenschafter, der sein Denken als völlig objektiv empfindet und sich der
angeblich wertfrei zu erkennenden Wahrheit verpflichtet fĂĽhlt, kann schon
der Auffassung sein, dass diese Wahrheit sich auch ohne politische oder
gesellschaftliche Re- oder Evolutionen gegen alle Widerstände durchzuset-
zen vermag. Die heutige Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie
ist beim Umgang mit dem Begriff der „Wahrheit“ vorsichtiger geworden
und legt mehr Wert auf die Untersuchung der gesellschaftlichen und politi-
schen Rahmenbedingungen der Wissenschaft44 – und wenn man von einer
Zwangsläufigkeit des wissenschaftlichen Fortschritts zur objektiven Wahr-
heit hin Abstand nimmt, dann erscheint es, grob gesprochen, als wissen-
schaftsgeschichtlicher Unsinn, in Raimann vorwiegend einen Hemmstein
des medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritts zu sehen. Theodor Pusch-
mann aber ging genau von der Prämisse aus, dass das medizinische Estab-
43 Puschmann, Die Medicin in Wien, S. 222.
44 Hier ein auch nur annähernd repräsentatives Spektrum der wissenschaftstheoretischen
und wissenschaftsgeschichtlichen Literatur der jĂĽngsten Zeit wiedergeben zu wollen,
wĂĽrde den Rahmen sprengen und ist fĂĽr die wissenschaftsgeschichtliche Verortung Rai-
manns auch nicht notwendig. Genannt seien hier nur fĂĽnf Werke von Autoren, die die
Geschichte der Naturwissenschaften vorwiegend kultur- und sozialwissenschaftlich
(Rheinberger, Breidbach, Gloy), (religions-) philosophisch (Pernkopf) und gender-
theoretisch sowie kulturrelativistisch (List) betrachten: Olaf Breidbach, Bilder des Wis-
sens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung (MĂĽnchen 2005);
Karen Gloy, Von der Weisheit zur Wissenschaft. Eine Genealogie und Typologie der
Wissensformen (Freiburg, MĂĽnchen 2007); Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstel-
len. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften (Weilerswist 2007); Elisabeth Pern-
kopf, Unerwartetes erwarten. Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher
Forschung (Würzburg 2006); Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten.
Studien zur Geschichte der modernen Biologie (Frankfurt/Main 2006).
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Johann Nepomuk Raimanns Reise mit Kaiser Franz I. im Jahre 1832