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aber eben auch das Reisen für jedermann, sodass der Staat, wie ausgeführt,
zu Kontrollen und ‚Polizeiplackerei‘ greifen musste, um in seinen Augen
gefährliche Reiseaktivitäten zu unterbinden. Die Bürger sollten gebildet und
erzogen werden, erzogen aber nicht zur Freiheit, sondern zu Gehorsam und
Ruhe. Alles Politische regelten Kaiser und Staat, und der Bürger konnte
seine Energien ganz der biedermeierlichen ‚Vereinsmeierei‘ widmen.150
Aber auch die Vereine und überhaupt alle Aktivitäten der Bürger mussten
überwacht werden, denn erstens war der Staat für das Wohlergehen seiner
Bürger wie für das von unmündigen Kindern verantwortlich, und zweitens
konnte man ja nie wissen, ob nicht irgendwo etwas Revolutionäres ausge-
heckt wurde. Jedenfalls aber erfolgte aus staatlicher Sicht jede Disziplinie-
rungs-, Bildungs- und Überwachungsmaßnahme nur zum Wohl der Unterta-
nen.
Aus dieser Perspektive betrachteten auch Raimann und sein Zimmerwirt
Vergotini die angeblich träge und dem Trunk ergebene Bevölkerung Istriens,
die zum vollen kulturellen Menschsein sozusagen erst „veredelt“ werden
müsse. Hier wird jener vernunftgläubige Optimismus sichtbar, der das Men-
schenbild der Aufklärung prägte:151 Man ging noch davon aus, dass man
150 Ich entsinne mich hier eines im Hafen von Parenzo/Poreč stattgehabten Gesprächs mit
dem Grazer Althistoriker Ingomar Weiler, der Parallelen zwischen den gesellschaftspoli-
tischen Entwicklungen in der römischen Spätantike und im Biedermeier sah: Im spätan-
tiken ‚Zwangsstaat‘ sei der cives zum subiectus geworden, sodass die „Vereinsmeierei in
den collegia“, so Weiler, einen Ersatz für die ehemalige politische Rolle der Bürger
darstellte, „ein bisschen wie in der Biedermeierzeit“. (Nachzulesen im vom Institut für
Alte Geschichte und Altertumskunde herausgegebenen Bändchen „Protokolle der Exkur-
sion nach Aquileia und Istrien, 15.-21. April 2000“ (Graz 2000), S. 24.) Einen Überblick
über politische und gesellschaftliche Entwicklungen in der Spätantike vgl. Alexander
Demandt, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian
284-565 n.Chr. (München 1998); Peter Dinzelbacher, Werner Heinz, Europa in der Spät-
antike 300-600. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (Darmstadt 2007); auf freilich
veraltetem Forschungsstand, aber dennoch nach wie vor lesenswert: Otto Seeck, Ge-
schichte des Untergangs der antiken Welt, 6 Bde. (Darmstadt 2000, ND der Aufl. Stutt-
gart 1921); Edward Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire. With an Intro-
duction by Hugh Trevor-Roper, 6 Bde. (London 1993, ND der Aufl. London 1910).
151 Zum historischen Wandel von Menschenbildern und ihrer kulturellen Bedeutung vgl.
Achim Barsch, Peter M. Hejl (Hrsg.), Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstel-
lung von der menschlichen Natur (1850-1914) (Frankfurt/Main 2000); Richard van Dül-
men (Hrsg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter
bis zur Gegenwart (Köln u.a. 2001); Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch.
Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (Stuttgart 1994); Burghart Schmidt
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