Page - 59 - in Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums - Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837), Volume 1
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59 Fischer
Kunst nach Ordnung, Auswahl und System
als eigenständiger Disziplin. Bekanntlich war es Johann
Joachim Winckelmann in seinem berühmten und ein-
flussreichen Werk zur Geschichte der Kunst des Alter-
thums (1764), der den Kollektivsingular Geschichte im
Sinn einer zusammenhängenden und kontinuierlichen
Einheit auf die Kunst anwendete und den Kollektivsin-
gular Kunst zum Mittelpunkt der Darstellung machte.
In der vergleichenden Analyse des Verzeichnisses mit
der Geschichte der Kunst des Alterthums lassen sich über-
einstimmende Termini ausmachen, an denen Mechels
Kunstauffassung sichtbar wird: „Geschichte der Kunst“,
„Entstehen […] Wachstum […] Entwicklung“ der Kunst,
„Epoche“. Damit drängt sich die Frage auf, ob Mechel
Winckelmanns System, sein „Lehrgebäude“, auf die
neuentwickelte Hängung der Gemälde anwenden woll-
te und konnte.
Die durch Winckelmann angeregte Einsicht wieder-
holt Mechel – anscheinend nicht zufällig – in Bezug auf
die Aufstellung der niederländischen Schule: „Hier bie-
tet sich dem Auge sichtbare Geschichte der Kunst
dar.“152 (Abb. 36) Speziell bei den Niederländern, die sowohl in den sieben Zimmern links
des Marmorsaals im ersten Stock wie in den darüber liegenden vier Zimmern im zweiten
Stock angeordnet waren, wird jener oft beschriebene Dualismus bemerkbar, der auch
Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums bestimmt: der Antagonismus zwischen
normativer Schönheitslehre und historisch bedingter Stilentwicklung in der Kunst, in dem
die Einheit der Kunst vordergründig wieder aufzubrechen scheint.153 Im ersten Teil des Bu-
ches, so formuliert Winckelmann, habe er versucht, ein „Lehrgebäude“ der Kunst zu lie-
fern, der zweite Teil dagegen sei der Kunst „nach den äußeren Umständen der Zeit“ ge-
widmet.154
Je nach Stockwerk zeigt sich auch die niederländische Kunst der Mechel-Galerie in die-
sen unterschiedlich gelagerten Zusammenhängen: Im ersten Stock werden die Niederlän-
der „aus der blühendsten Zeit“155 präsentiert, im zweiten Stock dagegen: „Proben des Ent-
stehens, des Wachsthums und der ganzen Entwicklung des Talents bey den Niederlän-
dern, und so enthält jedes Zimmer eine auszeichnende Epoche“.156 Die niederländische
Blütezeit der Malerei wurde – gemäß einer normativen Schönheitslehre – anhand der gro-
ßen Künstlerpersönlichkeiten Rubens, van Dyck und Teniers im ersten Stock aufgebo-
ten.157 Die geschichtliche Evidenz der niederländischen Kunst dagegen, also die „dem
Auge sichtbare Geschichte der Kunst“ im Sinne einer historischen und stilistischen Ent-
wicklung, wurde im gesamten linken Flügel des zweiten Stocks visualisiert.
Es beginnt der Rundgang im ersten Zimmer – als „Proben des Entstehens“ – mit
den „ersten Niederländischen Meistern“ und setzt im zweiten Zimmer – als „Proben des
Wachsthums“ – mit den „alten Niederländischen Meistern“ fort. Im dritten und vierten
Zimmer wurden die niederländischen Meister in ihrer „ganzen Entwicklung des Talents“
bis zu den Zeitgenossen dargeboten.158 Nicht nur im Rundgang durch den gesamten Flü-
gel des Belvedere, sondern schon innerhalb jedes einzelnen Raumes, von Wand zu Wand,
versuchte Mechel die stilistische Entwicklung der niederländischen Malerschule zu veran-
schaulichen. Dass ihm dies zumindest nach dem Urteil der Zeitgenossen gelungen war,
verdeutlicht eine Rezension von 1782, in der es heißt: „Desto stärker war die Wirkung
auf mich, als ich in einem Zimmer der alten niederländischen Meister an jeder Wand
eine andere Epoche der Kunst fand: von ihrem ersten Anfange an sah ich sie gleichsam Abb. 36
Grundriss des Oberen Belvedere,
Detail: linker Flügel, erster und zweiter
Stock mit der niederländischen Schule,
in: Mechel 1783, Anhang
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837), Volume 1
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Subtitle
- Die Kaiserliche Galerie im Wiener Belvedere (1776–1837)
- Volume
- 1
- Author
- Gudrun Swoboda
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 312
- Category
- Kunst und Kultur