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333 Wolf Museumskulturen
Die neue Hängung der Malerei in der Grande Galerie, auch wenn sie dieser Geste
dienen sollte, favorisierte zugleich einen solchen Zugang, und damit wurde das taxonomi-
sche Modell der Schulen im Sinne Mechels aufgegeben oder in ein neues kunstgeschicht-
liches Narrativ verwandelt, das eine neue Balance zwischen Künstler, Meisterwerk und
Abfolge von Schulen suchte bzw. ausbildete. Damit wandelte sich auch die Rolle des
Museums von einem Ort der Geschmacksbildung, der künstlerischen Selektion und Nach-
ahmung in eine europäische bzw. nationale Bildungsinstitution, welche auch zum Prome-
nieren einlud: z. B. vorbei an Antiken, die ästhetisch zelebriert wurden und sich in diesen
Jahren zugleich in einer Krise befanden. Dies betraf, wie dargelegt, vor allem den Apoll
vom Belvedere; die mediceische Venus bildete zunächst eine Ausnahme, bis mit den Elgin
Marbles ab 1816 in London und der Aphrodite von Melos ab 1822 in Paris sich das Blatt
wendete. 1815 war die ‚Versammlung‘ europäischer Meisterwerke in Paris wieder zer-
schlagen worden; ihre Rückführung stärkte die nationale Agenda der betroffenen Länder
und den Ausbau ihrer Museen mit neuen Konzepten. Auch die Bestände des Louvre
blieben reich; es wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte zum nationalen, universalen
Museum. In der Tat entstand in diesen Jahren das universale oder enzyklopädische
Museum, welches wiederum unterschiedliche politische frames hat, in Verbindung mit
dem Kolonialismus zu sehen ist und zugleich eine Exploitation der Altertümer des Osma-
nischen Reiches darstellte. Es wurden neue Narrative der Kulturen elaboriert, als Zivilisa-
tionsprozess, Abfolge von Hochkulturen, Ethnographisierung usf. mit komplexen Bezie-
hungen zu oder als Transformationen der Ordnungssysteme der europäischen Sammlun-
gen, ein Zusammen- oder Gegenspiel von Binnenordnungen und übergreifenden narrati-
ven Angeboten. Aus all dem resultierten Fragen für die Zukunft, für die Neuordnungen,
wie sie z. B. in Berlin anstehen, für den Versuch, Kulturen nicht als nationale, museale
Inszenierung und Repräsentation oder universalistische Zelebration der Kunst vorzuführen,
sondern das Museum auf einen Dialog der Kulturen hin zu öffnen.
Museen sind Gedächtnismaschinen ebenso wie solche des Vergessens – in Prozessen
der Dekontextualisierung wie Rekontextualisierung, die historische wie kunsthistorische
Forschung und Narrative ebenso in Gang setzen wie diese auf sie zurückwirken. Sammlungs-
topographien sind ihrerseits zu ‚Orten‘ geworden oder werden als solche angelegt, sie
lassen sich historisieren, wiewohl neue Konzepte oft nicht vor ihnen haltmachen oder sie
integrieren. Die Museen, in denen die Werke oft so unbeweglich scheinen, sind in Wahr-
heit Orte eines temporären wie permanenten displacement mit eigenen Technologien.
Und es gibt die Depots, jene überdichteten Orte engster Kohabitation von Artefakten ver-
schiedenster Provenienz. In den Depots ist der größere Teil der Museumsobjekte versam-
melt; das war auch schon in der Frühgeschichte des Louvre der Fall und läßt sich an so
denkwürdigen Orten wie dem Depot des Völkerkundemuseums in den Untergeschossen
der Hofburg in seiner ganzen historischen Problematik wie gegenwärtigen Situation erfas-
sen. Die Geschichte der Depots wäre gewiss ein spannendes Forschungsthema.
Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
Europäische Museumskultur um 1800, Volume 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Die kaiserliche Gemäldegalerie in Wien und die Anfänge des öffentlichen Kunstmuseums
- Subtitle
- Europäische Museumskultur um 1800
- Volume
- 2
- Author
- Gudrun Swoboda
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79534-6
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 264
- Category
- Kunst und Kultur