Page - 384 - in Das linearbandkeramische Gräberfeld von Kleinhadersdorf
Image of the Page - 384 -
Text of the Page - 384 -
Barbara Tiefenböck, Maria
Teschler-Nicola384
hofes52; damit sind auch die paläodemographischen Aussa-
gen über Sterbealters- und Geschlechtsverhältnisse in dieser
Skelettpopulation begrenzt. Dies bestätigt auch der Signifi-
kanztest nach Fisher (Fisher-Exakt-Test), der die auf den
ersten Blick auffälligen geschlechtsspezifischen Sterblich-
keitsunterschiede in der jungadulten Altersgruppe (zwi-
schen dem 20. und 30. Lebensjahr) als Stichprobeneffekt
enttarnt.
4.2 Zähne und Zahnhalteapparat
Der Gesundheitszustand der Zähne vermag Hinweise auf
die Ernährung einer vorgeschichtlichen Population zu ge-
ben und erlaubt damit Rückschlüsse auf Teilbereiche des
Lebensstils und – bei Einbeziehung der Individualdaten –
auch alters- und geschlechtsspezifische Verhaltensmuster
und soziale Relationen zu erfassen53.
Für die Beurteilung des Gesundheitszustandes der Zäh-
ne wurden die Parameter Kariesfrequenz und -intensität,
Wurzelgranulome, Abrasion, Zahnsteinablagerung und Er-
krankungen des Zahnhalteapparates herangezogen. Auch
Schmelzhypoplasien wurden erfasst; da diese aber allge-
mein als „unspezifische Stressindikatoren“ gelten, deren
Entstehung auf eine ernährungsbedingte oder andere Noxe
zum Zeitpunkt der Schmelzbildung (z.
B. Infektionskrank-
heit) zurückgeführt werden kann, wird dieses Merkmal im
Zusammenhang mit den anderen, durch Mangelversorgung
hervorgerufenen Skelettsymptomen diskutiert werden.
4.2.1 Zahnkaries
Die Entstehung von Zahnfäule, welche heute als Zivilisati-
onskrankheit gilt54, wird von vielen Faktoren beeinflusst.
Neben der Beschaffenheit der Zahnsubstanz (Dicke des
Zahnschmelzes), der Zahnfehlstellungen (z. B. Engstände)
oder Zahnfehlbildungen und zahnhygienischer Maßnah-
men, fördert vor allem die Ernährung und die Zusammen-
setzung der Mundflora die Bildung von Karies55. Dieser
Prozess wird durch die Zersetzung des Zahnbelages (Plaque)
durch Bakterien der Mundflora (vorwiegend Streptococ-
cen) eingeleitet. Bei überwiegend proteinreicher Nahrung
bilden diese Bakterien Basen, bei überwiegend kohlenhyd-
ratreicher Nahrung (hoher Gehalt an Saccharose) Säuren,
die das kariogene Milieu determinieren. Die Bildung von
Säuren führt schließlich zu einer Demineralisierung des
52. Neugebauer-Maresch 1992. – Neugebauer 1995.
53. Bach 1978. – Schultz 1982. – Schneider 1986. – Lukacs 1989.
– Kelley, Larsen 1991.
54. Schultz 1989a. – Grupe et al. 2005.
55. Carli-Thiele 1996.
Skelettreste49, ist anzunehmen, dass ein Großteil der Gräber
im Laufe der Zeit durch natürliche Erosion oder durch Ri-
golung zerstört wurde.
Als weitere demographische Kenngröße bei der routi-
nemäßigen Auswertung prähistorischer Gräberfelder hat
sich auch das „mittlere Sterbealter“ etabliert, wiewohl man
diesem – in Anbetracht eines wahrscheinlich vorliegenden
Kleinkinderdefizites in der Kleinhadersdorfer Skelettserie
– kaum Aussagekraft zubilligen kann. Mit einem Wert von
24,5 Jahren liegt ein mittleres Sterbealter vor, das andere Se-
rien zwar um einige Jahre übertrifft (z. B. Bruchstedt 22,5
Jahre; Schönstedt 21,6 Jahre; Niederbösa 22,4 Jahre)50, was
bessere Lebensbedingungen impliziert, tatsächlich aber aus
dem evidenten Defizit von Kleinkindern und Neugebore-
nen erklärt werden kann.
Unter den Erwachsenen konnten 16 Individuen als
männlich und zehn Individuen als weiblich bestimmt wer-
den. Das durchschnittliche Sterbealter der Männer ist mit
37,6 Jahren um knapp zwei Jahre höher als dasjenige der
Frauen, welches 35,9 Jahre ergab. Auf den ersten Blick ent-
sprechen diese Werte durchaus den Erwartungen, denn
Frauen vorindustrieller Bevölkerungen waren, was viele
ähnliche Untersuchungen zeigen, durch Schwangerschaft
und Geburt einem höheren Risiko ausgesetzt. Betrachtet
man allerdings den relativen Anteil der männlichen und
weiblichen Verstorbenen innerhalb der verschiedenen Al-
tersklassen, zeigt sich ein eher unerwartetes Ergebnis: Denn
zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr starben zwar 30,8
%
der Männer, aber nur 15,4 % der Frauen. Da keine Spuren
traumatischer Veränderungen an den Skelettresten nachge-
wiesen werden konnten, können gewalttätige Auseinander-
setzungen51 als Ursache der höheren Sterberate männlicher,
adulter Individuen eher ausgeschlossen werden. Viel wahr-
scheinlicher dürften für dieses Ergebnis taphonomische
Prozesse und der Erhaltungszustand verantwortlich zeich-
nen. Die seichte Lage der Bestattungen, Rigolpflügung und
die Verwitterung haben die Skelettrepräsentanz, insbeson-
dere grazilerer weiblicher und kindlicher Individuen viel-
fach massiv beeinträchtigt. Zudem waren viele, anhand von
Bodenverfärbungen dokumentierte Grabgruben leer. Nach
Ansicht der Archäologen könnte es sich bei diesen Gruben
um sogenannte „Scheingräber“ handeln (symbolische Be-
stattungen?). Die aus 61 Gräbern geborgenen Individuen
repräsentieren daher mit Sicherheit eine Teilstichprobe ei-
nes ehedem vielleicht 200 Bestattungen umfassenden Fried-
49. Neugebauer-Maresch 1992.
50. Bach 1978.
51. Behrens 1978. – Wahl, König 1987. – Lauermann 1997. –
Teschler-Nicola 1997.
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Kleinhadersdorf
- Title
- Das linearbandkeramische Gräberfeld von Kleinhadersdorf
- Authors
- Christine Neugebauer-Maresch
- Eva Lenneis
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-7598-8
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 406
- Keywords
- Neolithic, LBK, cemetery, archaeology, prehistory, Kleinhadersdorf, Lower Austria, Neolithikum, Linearbandkeramik, Archäologie, Urgeschichte, Gräberfeld, Kleinhadersdorf, Niederösterreich
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen