Page - 10 - in Der Stoff, aus dem Konflikte sind - Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Image of the Page - 10 -
Text of the Page - 10 -
PETRA ROSTOCK/SABINE BERGHAHN
10
seit 19971 immer wieder aufkommenden Debatten über das Kopftuch (der
Lehrerin) zeigen, geht es nicht nur um das Verhältnis von Staat und Religion.
Verhandelt werden vielmehr vermeintliche Gegensätze zwischen Eigenem
und Fremdem. Die Geschlechterverhältnisse der Anderen dienen dabei als Be-
weis für unüberwindbare kulturelle Differenzen. Geschlechtergleichheit und
Emanzipation werden auch von konservativen Parteien und anderen Akteuren
wie der katholischen Kirche, denen die Gleichberechtigung von Frauen und
Männern bisher kein Anliegen war, eingesetzt, um die Inkommensurabilität
zwischen einem christlich-okkzidentalen ›Wir‹ und einem muslimischem
›Anderen‹ zu belegen (Rostock/Berghahn 2008).
Schon in den 1960er Jahren wiesen die über deutsche und nichtdeutsche
Frauen zirkulierenden Geschlechterbilder eine starke Polarität auf: »Auf der
einen Seite die moderne westdeutsche Ehefrau und Mutter, für die der Teil-
zeitjob innere Bereicherung, aber auch Taschengeld bedeutete […]. Auf der
anderen Seite die ›Gastarbeiterin‹ […]. Deren Motiv für den Erwerbsaufent-
halt in der Bundesrepublik hatte ausschließlich die wirtschaftliche Not zu
sein« (Mattes 2008: 25 f; Hervorhebungen im Original), wodurch Patho-
logisierung und Viktimisierung der ›Gastarbeiterin‹ überwogen. Spätestens
seit den 1980er Jahren ist die Figur der ›armen unterdrückten Türkin bzw.
Muslimin‹ virulent, die eingesperrt, zwangsverheiratet und genötigt wird, ein
Kopftuch zu tragen (Lutz 1989). Dabei war das Kopftuch vor allem seit den
1970er Jahren ein sozialer Marker, Kopftuch tragende Frauen galten als rück-
ständig und ungebildet. In den 1990er Jahren fand jedoch eine Verschiebung
statt von einer Assoziation des Kopftuchs mit spezifischen ökonomischen Be-
dingungen (insbesondere in Verbindung mit Putzfrauen) zur Interpretation des
Kopftuchs als Marker kultureller Differenz (Rottmann/Marx Ferree 2008:
485; Weber 2004: 38). Diese Interpretation ist nur als Bestandteil einer allge-
meinen Kulturalisierung des Sozialen zu verstehen, die sowohl in Teilen der
Migrationsforschung, als auch in öffentlichen und politischen Debatten statt-
findet. Im Kontext eines neoliberalen Um- bzw. Abbaus des Wohlfahrtsstaats
werden kulturelle Differenzen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft
aufgeladen und als Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium instrumentalisiert, um
die Mehrheitsgesellschaft gegenüber Einwanderern als Wir-Gruppe zu ver-
einen und von sozialen Konflikten abzulenken (Butterwegge 2007). Die an-
genommene kulturelle Verschiedenheit verdichtet sich häufig im Bild der
1 1997 lehnte das Stuttgarter Oberschulamt Fereshta Ludin als Referendarin ab,
weil es in dem Kopftuch eine unzulässige ideologische Aussage sah. Die dama-
lige Baden-Württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) erteilte
ihr die Erlaubnis für das Refrendariat mit der Begründung, Ludin müsse wenigs-
tens ihre Ausbildung beenden können.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik