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EINLEITUNG
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Individualität der Musliminnen und Muslime immer öfter negiert. Gleich-
zeitig findet auch unter den Musliminnen und Muslimen eine Auseinander-
setzung um ›Identität‹ und ›Gemeinschaft‹ statt. Muslimische Organisationen
werden mehr und mehr zum aktiven Teil des Diskurses über sich selbst. Doch
in ihrem Bemühen, den Diskurs über Muslime mitzugestalten, stehen Be-
teiligte häufig ebenfalls für eine Identität ein, die nicht in ihren Brüchen, Dis-
kontinuitäten und Heterogenitäten artikuliert wird, sondern in einem Kon-
tinuum vereinheitlichter kultureller und traditionsgebundener Praktiken. Die
zwischen verschiedenen in Deutschland lebenden Menschen bestehenden Dif-
ferenzen erscheinen so in den Debatten um Migration, Integration und Islam
als wesenhaft und unüberwindbar, statt dass Überzeugungen als gesellschaft-
lich vermittelt, individuell gewonnen, veränderbar und vor allem als multiple
wahrgenommen werden. Dabei ist die Beschwörung einer ›deutschen Leitkul-
tur‹ ebenso hinderlich für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft wie der
Alleinvertretungsanspruch mancher muslimischer Organisationen. Wie jedoch
kann sozialer Zusammenhalt gemeinsam und solidarisch geschaffen werden?
In den Beiträgen dieses Bandes treten verschiedene Spannungsverhältnis-
se zu Tage: zwischen dem Bruch mit der Tradition der ›offenen‹ Neutralität
des deutschen Staates und der Möglichkeit, dem religiösen Pluralismus auch
rechtlich Rechnung zu tragen; zwischen den Prinzipien der Freiheit, Auto-
nomie und Dominanz; zwischen der ausgrenzenden Wirkung, die die Kopf-
tuchdebatte entfaltete und dem unter Einbeziehung muslimischer und nicht-
muslimischer Stimmen entstehenden Diskursraum; zwischen der beflügelnden
Wirkung, die die öffentliche Thematisierung von Fragen der Gleichberech-
tigung auf islamische Gemeinden ausübte, der verstärkten Sichtbarkeit von
Migrantinnen und Musliminnen und dem anhaltenden Stereotyp einer ›passi-
ven Muslimin‹. Diese Spannungsverhältnisse zeigen, dass eine Politik not-
wendig ist, die offen ist für eine Vielzahl von Zielen und die kulturelle, ju-
ristische, sozioökonomische und politische Perspektiven stärker verzahnt.
Ähnliches gilt für die Wissenschaft. Dass es daran bisher mangelt, zeigt auch
die 2008 neuerlich aufgeflammte Debatte um einen neuen Feminismus. Wäh-
rend ein Element der Kopftuchdebatten immer die Frage nach der Gleich-
berechtigung von Frauen war, tauchte das Wort ›Migrantinnen‹ oder gar
›Musliminnen‹ in den neuen Feminismusdebatten kein einziges Mal auf: Dort
scheint sich »der weiße christliche Mittelschichtseintopf« (Kiyak 2008) selbst
zu kochen und zu löffeln. »Das andere wird unter der Überschrift ›Integra-
tionsdebatte‹ gedruckt, wenn es sich um Musliminnen handelt« (ebd.).
Doch die verschiedenen Perspektiven lassen sich verbinden, wenn es nicht
mehr darum geht, ein Mehr an Freiheit hier und ein Weniger an Freiheit dort
zu verorten sondern in einen Dialog darüber einzutreten, wie verschiedene
Herrschaftsformen und Unterdrückungsmechanismen auf verschiedene Weise
zum Einsatz kommen (Leisch 2001; Räthzel 2005: 117 f). Vielleicht könnte
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik