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SABINE BERGHAHN
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diesem Band).3 Die Betroffene verfolgte den Rechtsstreit nicht weiter. Ferner
ist aus den Jahren vor 2003 über einen weiteren Fall zu berichten: Einer
Verkäuferin in einem Kaufhaus einer hessischen Kleinstadt wurde wegen
ihres Kopftuchs gekündigt. Sie erhob Kündigungsschutzklage, verlor aber in
erster und zweiter Instanz der Arbeitsgerichtsbarkeit. Erst in dritter Instanz
beim Bundesarbeitsgericht (BAG) bekam sie 2002 Recht; die Kündigung
wurde als diskriminierend und nicht sozial gerechtfertigt zurückgewiesen, das
Kaufhaus musste die Frau wieder einstellen.4 Soweit die Situation vor dem
Weichen stellenden ›Kopftuchurteil‹ vom 24.09.2003. Vieles war noch offen
(Berghahn 2000), auch wenn die meisten Instanzentscheidungen in Sachen
›Ludin‹ doch schon eine restriktive Richtung gegenüber dem Kopftuch der
Lehrerin anzeigten. Damals unterrichteten mehr als 20 Lehrerinnen mit Kopf-
tuch, einige in Baden-Württemberg und mehr noch Nordrhein-Westfalen.
Probleme oder Konflikte mit Schülerinnen oder Schülern bzw. Eltern wurden
aus dieser Zeit nicht berichtet; die wenigen von den Medien behandelten
›Kopftuchfälle‹ waren solche, die nur Bewerberinnen betrafen; gegen be-
schäftigte Pädagoginnen mit Kopftuch wurde damals noch nicht vorgegangen.
Seitdem sind mehr als fünf, bald sechs Jahre vergangen5 und die Situation
hat sich gravierend verändert. In acht von 16 deutschen Bundesländern wur-
den Gesetze erlassen, die das muslimische Kopftuch, genauer religiöse,
weltanschauliche und politische Kleidung oder am Körper der Lehrkraft ge-
tragene Zeichen, verbannen sollten; gut zwei Dutzend Lehrerinnen sind oder
waren in Rechtsstreite verwickelt, entweder gegen die Ablehnung ihrer Be-
werbung oder gegen arbeitsrechtliche Abmahnungen und beamtenrechtliche
Sanktionsmaßnahmen. In letzter Konsequenz drohen ihnen Entlassung und
Arbeitslosigkeit oder diese sind schon eingetreten.
Welchen Anteil an der heutigen Situation hat nun das verfassungs-
gerichtliche ›Kopftuchurteil‹ vom 24.09.2003? Wie haben die staatlichen In-
stitutionen, d.h. Landesregierungen, Parlamente und Gerichte, agiert? Was
lernen wir über den Zusammenhang von Religions-, Integrations- und Ge-
schlechterpolitik in der Einwanderungsgesellschaft? Der letztere Begriff ver-
weist auf einen weiteren Zusammenhang – nicht nur zeitlicher Art – denn seit
dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 gilt die Bundesre-
publik Deutschland auch offiziell als ›Einwanderungsgesellschaft‹, wenn auch
diese Selbstbeschreibung für viele Zeitgenoss/inn/en noch ungewohnt ist
(Rostock/Berghahn 2008). Seit 1998 ist auch der ›Kopftuchkonflikt‹ virulent,
3 Verwaltungsgericht (VG) Lüneburg v. 16.10.2000, Neue Juristische Wochen-
schrift (NJW) 2001, 767; Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg v. 13.03.
2002, Neue Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsreport
(NVwZ-RR) 2002, 658; siehe auch Altinordu 2004.
4 BAG v. 10.10.2002, NJW 2003, 1685.
5 Stand der Ereignisse: 28.02.2009.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik