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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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Vom ›Kopftuchurteil‹
zur zersplitterten Regelungslandschaft
Neue Landesgesetze und Rechtsprechung
zum ›Kopftuch der Lehrerin‹
Wie schon angedeutet wurde, stehen der erste und der zweite Leitsatz des
›Kopftuchurteils‹ in einem gewissen Widerspruch. Denn wenn man in dem
Kopftuchverbot bzw. der Ablehnung einer Bewerberin wegen des Kopftuchs
einen unverhältnismäßigen Eingriff in deren Grundrechte sieht, so müsste es
auch mit gesetzlicher Grundlage gewisse grundrechtsbezogene Grenzen für
Eingriffe in das Recht geben, religiös motivierte Kleidung oder Zeichen am
Körper zu tragen. Tatsächlich aber hat sich das BVerfG vollkommen zurück-
gehalten und kein Kriterium zur Eingrenzung legitimer Kleidungsrestriktio-
nen festgelegt außer dem Gebot, dass alle Religionen gleich behandelt werden
müssten (siehe auch Mahrenholz in diesem Band). Die Senatsmehrheit hat
zwischen ›konkreter‹ und ›abstrakter‹ Gefahr für die staatliche Neutralität
oder den Schulfrieden differenziert, aber auch die letztere genügen lassen, um
religiöse wie auch weltanschauliche und politische Symbole oder Kleidungs-
stücke auf der Landesebene verbieten zu können. Aus dem Kontext des Ur-
teils lässt sich schließen, dass die Neubestimmung der staatlichen Neutralität
nur im laizitären,10 d.h. Staat und Religion, öffentlich und privat strikt tren-
nenden Sinne, würde denkbar sein, genauere Ausführungen finden sich je-
doch nicht. Gleichwohl bekannte man sich im Urteil grundsätzlich zur Tra-
dition der ›offenen‹ Neutralität, wie sie vom BVerfG in zahlreichen Entschei-
dungen immer wieder als die geltende Religionsverfassung der Bundesre-
publik Deutschland herausgearbeitet worden ist (siehe auch Böckenförde,
Mahrenholz und Sacksofsky sowie im Anhang dieses Bandes die »Infor-
mationen über wichtige Entscheidungen des BVerfG mit religiösem Bezug«).
Das Bekenntnis zur vorbehaltlosen Garantie der Glaubens- und Bekenntnis-
freiheit, zur grundsätzlichen ›offenen‹ Neutralität des Staates in religiösen
Dingen passt so gar nicht zu dem Regelungsfreibrief, den die Bundesländer
mit der ›Kopftuchentscheidung‹ erhielten, wonach sie nunmehr eine striktere
Trennung der Sphären zumindest für die Schulen und das Kleidungsgebaren
von Lehrkräften festlegen dürfen. Ganz abgesehen davon fragen sich einige
Zeitgenoss/inn/en verwundert, wie das BVerfG zu der Legitimation gekom-
men sein könnte, eine veritable Verfassungsänderung in eigener Machtvoll-
kommenheit herbeizuführen, denn um nichts anderes handelt es sich hier,
10 In diesem Beitrag wird in Anlehnung an den französischen Sprachgebrauch von
»Laizität« gesprochen, wenn das verfassungsrechtliche Prinzip gemeint ist, nicht
von »Laizismus«, da dieser Begriff die ideologische Strömung bezeichnet, die
hinter der kämpferischen und bisweilen religionsfeindlichen Vorstellung steht.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik