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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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Islams dagegen bundesrechtlich vollzogen, und auch die Selbstbestimmungs-
kompetenz für die Erteilung des Religionsunterrichts durch die Religions-
körperschaften ist weiter gesteckt als in den deutschen Bundesländern. Dort
gibt es zwar punktuell ebenfalls islamischen Religionsunterricht, jedoch nicht
flächendeckend und bislang eher im Versuchs- und Erprobungsstadium (zum
Vergleich des Religionsunterrichts Österreich-Deutschland Khorchide 2008).
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass in Deutschland die spe-
zifischen Einflüsse des politischen Systems und der ›political opportunity
structure‹ die Anerkennung des (freiwillig getragenen) Kopftuchs als legiti-
mes religiöses Zeichen eher verhindern als fördern.35
Profilierung von Regierungsparteien als Bewahrer
vor Überfremdung und überfordernder Multikultur
Meine These, dass neben der starken Stellung des BVerfG auch das politische
Profilierungsstreben der Parteien im föderativen System hauptursächlich für
die deutsche Regelungssituation ist, legt die Frage nahe, wie die politischen
Parteien sich in dieser Kontroverse zu profilieren suchten und wozu dies
dienen sollte. Hier ist der bereits erwähnte Zusammenhang zwischen der
›Kopftuchdebatte‹ und der späten Akzeptanz, dass Deutschland eine Einwan-
derungsgesellschaft ist, anzuführen (siehe auch die Einleitung zu diesem
Band). Üblicherweise werden neben dem ›Staat-Kirche-Regime‹ das jewei-
lige Staatsbürgerschaftsmodell (Koopmans et al. 2005) und das damit ver-
bundene ›Migrationsregime‹ als wichtige Faktoren zur Erklärung jeweiliger
Regulierungstendenzen in der ›Kopftuchfrage‹ angesehen. Die Bundesrepu-
blik Deutschland hat schon historisch auf Grund der deutschen Teilung nach
dem Zweiten Weltkrieg, der Aufnahme großer Gruppen von deutschstäm-
migen Flüchtlingen und des ›ethno-kulturellen‹ Staatsbürgerschaftsmodells
(aufbauend auf dem ›ius sanguinis‹) sehr lange daran festgehalten, kein Ein-
wanderungsland zu sein. Lange noch wurden die Zuwanderer als ›Gastarbei-
ter‹ tituliert und gering ist daher im Vergleich zu anderen Ländern der Anteil
der Eingebürgerten an der Bevölkerung mit ›Migrationshintergrund‹. Da
›Gastarbeiter/innen‹ irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren würden,
waren Integrationsmaßnahmen in der Politik lange kein bedeutsames Thema,
insbesondere wurde auch die Bildung und Qualifizierung der Kinder und Ju-
gendlichen der Einwanderer vernachlässigt.
35 Zwar ist ausgerechnet das Kopftuch von Schülerinnen insofern anerkannt und
zugelassen, obwohl sich wegen des Alters der Trägerinnen hier noch die meisten
Zweifel an der Freiwilligkeit ergeben. Die rechtliche Anerkennung hängt jedoch
eher mit dem aus Art. 6 und 7 GG abgeleiteten ›Elternrecht auf Bestimmung der
religiösen Erziehung der Kinder‹ zusammen als mit der Anerkennung von re-
ligiösem Pluralismus und korporativer Autonomie islamischer Gemeinschaften.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik