Page - 60 - in Der Stoff, aus dem Konflikte sind - Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Image of the Page - 60 -
Text of the Page - 60 -
SABINE BERGHAHN
60
Bevölkerung diesen Beweis nicht liefern. Sicherlich gibt es Mädchen und
Frauen, die das Kopftuch nur wegen des Drucks ihrer Angehörigen tragen,
aber deutlich häufiger ist in der jüngeren Generation eine freiwillig getragene
Kopfbedeckung. Oftmals grenzen sich junge Musliminnen damit sogar von
ihren Elternhäusern und Müttern ab, indem sie sich ›bedecken‹, während die
Mutter kein Kopftuch trägt. Gerade die im Rampenlicht der Kontroverse ste-
henden gut qualifizierten Lehramtskandidatinnen gehören zur Gruppe der das
Kopftuch freiwillig und bewusst tragenden Frauen.
Kommen wir zurück zur deutschen Mehrheitsgesellschaft und zu ihren
politischen Repräsentanten: Indem die Ablehnung des Islams mit der Unter-
stellung verknüpft wird, gläubige Muslime stünden unter dem totalitären
Druck einer rückständigen und frauenfeindlichen religiösen Ideologie, er-
scheint es scheinbar plausibel, dass muslimische Frauen an ihrer eigenen
Unterdrückung mitwirken und nur durch ›Zwangsbefreiung‹, also Entschleie-
rung (Braun/Mathes 2007), von der erzwungenen selbstunterdrückerischen
Loyalität entbunden werden können. Hier sind offenbar spätkoloniale All-
machtsphantasien am Werke (siehe auch Barskanmaz in diesem Band). ›Un-
sere Kultur‹, der Okzident mit seinen ›modernen aufgeklärten Werten‹ und
insbesondere mit dem erreichten Stand der Frauenemanzipation steht demge-
genüber als fortgeschritten, frauenfreundlich und überlegen da. In Wirklich-
keit sind viele von denen, die Geschlechterverhältnisse von Muslimen als
rückständig erachten, selbst keine Anhänger von Gleichstellung und Frauen-
emanzipation. Dies trifft etwa auf Udo di Fabio zu, einen Mitautor der Ab-
weichenden Meinung zum ›Kopftuchurteil‹ im BVerfG. In seinem Buch »Die
Kultur der Freiheit« (2005) legt er im Kapitel über die Familie wortreich seine
Wertschätzung für die »Lust am Unterschied« (ebd.: 144) zwischen Männern
und Frauen dar und beklagt u.a., dass der »neue Lebensstil der betonten Ge-
schlechtergleichheit sich vor alle Sozialmodelle« (ebd.) schiebe, »die die Dif-
ferenz der Geschlechter hervorheben, obwohl die Differenz selbst im Kern
vermutlich von keiner zivilisatorischen Prägung abhängt« (ebd.). Sein pro-
nonciertes Differenzdenken, seine Trauer über den Verfall der kindzentrierten
Lebens- und Familienplanung heutiger Frauen (und Männer), bei dem »die al-
les mitreißende Idee intimster Einheit im gemeinsamen Kind unter die Mühl-
steine eines eindimensionalen Individualismus gerät« (ebd.: 145) und seine
Sorge um die Institution Ehe sind wohl nicht so weit von einem als durch-
schnittlich konservativ imaginierten Geschlechter- und Familienbild entfernt,
welches muslimischen Bevölkerungsgruppen in Europa zugeschrieben wird.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik