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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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Druck auf Muslime bewahrt die gewohnte soziale Hierarchie
Zudem zeichnet sich für viele Frauen und Männer der Mehrheitsgesellschaft,
selbst für manche Feministinnen, durch die scharfe Ablehnung des Kopftuchs
eine weitere Möglichkeit zur Binnendifferenzierung, zur sozialen Hierar-
chisierung und damit Schließung der eigenen gesellschaftlichen Bezugskreise
ab, die es erlaubt, den Stand der ›eigenen‹ gesellschaftlichen Entwicklung und
ihrer Errungenschaften für das Individuum zu überhöhen, indem auf andere
herabgeblickt wird. In wirtschaftlich prekären Zeiten, in denen nicht mehr der
Aufstieg für alle versprochen werden kann, ist diese Form der Differenzie-
rung offenbar eine nützliche Methode zur Aggressionsabfuhr und Statuskon-
solidierung für (sozial abstiegsgefährdete) Gruppen und Individuen. Es entlas-
tet zudem vom Druck, Solidarität mit anderen Gruppen zu empfinden, denen
es vielleicht auch schlecht geht, die einem aber nicht nahe stehen und die man
verdächtigt, dass ihr Gruppenzusammenhalt größer sein könnte und sie auch
keine Solidarität im umgekehrten Falle mit ›unsereins‹ empfinden würden.
Angesichts solcher Gefühle beruhigt es vielleicht so manchen Zeitgenossen,
von handlungspotenten Politikern vorgeführt zu bekommen, dass die Immi-
granten – und unter ihnen besonders die Muslime – wirksam dazu gebracht
werden, sich am ›Ende der Schlange‹ anzustellen.
Als einen solchen Prozess der Abgrenzung und Subalternisierung lassen
sich auch und gerade ›Kopftuchverbotsgesetze‹ deuten. Jedenfalls empfinden
viele Musliminnen die Aufregung über ihre Kopfbedeckung als soziale Miss-
gunst der Mehrheitsgesellschaft. Ihr Argument lautet: Solange unsere Mütter
eure Schulflure geputzt haben, hattet ihr gegen das Kopftuch nichts ein-
zuwenden, jetzt, wo wir als Lehrerinnen in den Staatsdienst aufsteigen wol-
len, stört ihr euch daran!
Fazit: Politisch-religiöse Doppelmoral
und säkulare Konfliktvermeidungsmanie
ließen Verbotsgesetze gedeihen
Zusammenfassend lässt sich die Suche nach den Gründen für einen derart
konfrontativen regulativen Umgang besonders in den Bundesländern, die
einer politischen Doppelmoral huldigen und lediglich das Kopftuch, nicht
aber christliche oder jüdische Symbole verboten sehen wollten, als Bedürfnis
nach sozialer und politischer Hierarchisierung ansehen. Dies mag auch damit
zusammenhängen, dass weite Teile der Bevölkerung und der politischen Elite
die Prinzipien der pluralistischen Einwanderungsgesellschaft bisher sehr
wenig verinnerlicht haben und noch in der alten ›Gastarbeiteraufnahmegesell-
schaft‹ verharren. Dazu passen Diagnosen, insbesondere nach dem 11. Sep-
tember 2001, nach den Attentaten in Madrid und London und der Ermordung
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik