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DEUTSCHLANDS KONFRONTATIVER UMGANG MIT DEM KOPFTUCH DER LEHRERIN
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nommen, womit auf fremdenfeindliche und rassistische Übergriffe an zahl-
reichen Orten europäischer Mitgliedstaaten in den neunziger Jahren, auf Anti-
semitismus und wachsende Islamfeindlichkeit reagiert werden sollte. Die
Förderung von Vielfalt als ›Diversität‹ wurde und wird als Instrument an-
gesehen, um gleiche Marktteilnahme und gleichen Respekt aller Einwohner/
innen unabhängig von dem Geschlecht, der Rasse und ethnischen Herkunft,
der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der
sexuellen Identität/Orientierung durchzusetzen. Kritiker/innen sehen Anti-
diskriminierung und Diversity nicht nur im humanistischen Glanz, sondern
auch als Versuch der rhetorischen Abmilderung bzw. Verschleierung neoli-
beraler Härten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Globalisierungs-
entwicklungen. Um davon abzulenken, dass der entfesselte Kapitalismus und
der immer schärfer werdende Wettbewerb im Individuellen wie im Kol-
lektiven Hoffnungen auf Wohlstand, sozialen Ausgleich und individuellen
Aufstieg durch Leistung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen weit gehend
obsolet macht, lässt sich Diversity-Politik auch als Alibipolitik oder Befrie-
dungsstrategie sehen. Es werde »Anerkennungskosmetik« (Sauer 2007: 35)
betrieben, wo »eigentlich Umverteilung notwendig wäre« (ebd.). So vertritt
Birgit Sauer die These, dass Diversitätspolitik eine »umkämpfte Arena der
politischen Regulierung neuartiger sozialer Verhältnisse« (ebd.: 36) sei,
»nämlich der zunehmenden Differenzierung und Fragmentierung von Gesell-
schaft« (ebd.). Dabei würden auch feministische Identitätspolitiken und Sub-
jektivierungsformen im Projekt der Veränderung staatlicher Steuerung von
Wohlfahrts- und Geschlechterregimen funktionalisiert. Das ist am Beispiel
der Kopftuchproblematik sicherlich gut zu verdeutlichen: Solange über Beam-
tenpflichten, Neutralität und das Wesen von Religionen im Zusammenhang
mit der Kopftuchproblematik gestritten wird, bleibt die soziale Wirklichkeit
benachteiligter Migrantinnen außer Betracht; führende Politiker können sich
problemlos auf die Seite von Feministinnen wie Alice Schwarzer (2006)
schlagen, wenn sie im Kopftuch generell den Ausdruck von Frauenunter-
drückung und Islamismus sehen. Vor welchem lebensweltlichen Hintergrund
zahlreiche junge selbstbewusste Musliminnen ein Kopftuch (siehe auch Rom-
melspacher in diesem Band) tragen und damit sowohl legitime Differenz als
auch gleichberechtigte Teilhabe einfordern, bleibt nahezu ausgeblendet. Um-
so mehr müsste wenigstens gewährleistet sein, dass ihnen die liberalen Frei-
heitsrechte, in diesem Fall also die Bekenntnisfreiheit, zugestanden werden.
eignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Ge-
schlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Welt-
anschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu
bekämpfen«.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik