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KIRSTEN WIESE
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Transgender29 gibt. Die Einteilung in Männer und Frauen bewirkt einen
Ausschluss all derjenigen Menschen, die sich in dieses binäre System nicht
einordnen lassen können oder wollen. Ein solcher Ausschluss widerspricht
aber Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. Im Ergebnis heißt das, dass die Schule zur
Erfüllung des Erziehungsziels der Gleichberechtigung versuchen muss, Jun-
gen und Mädchen dazu zu erziehen, die Gleichberechtigung der Geschlechter
zu achten und ihre Chancen wahrzunehmen. Deshalb darf sie ihnen keine
Festlegung auf tradierte Geschlechterrollen nahelegen. Zugleich sollte die
Schule den Kindern vermitteln, dass es Menschen ohne klar zuordenbares
Geschlecht gibt, und sie zumindest darauf aufmerksam machen, dass eine
Gesellschaft ohne Einteilung in Geschlechterrollen denkbar ist.
Eine Lehrerin mit Kopftuch kann Gleichberechtigung nicht
überzeugend im Sinne des Grundgesetzes vermitteln
Lehrerinnen müssen ›Gleichberechtigung‹ mit dem zuvor gezeigten Inhalt
vermitteln. Zwar steht das Kopftuch einer Lehrerin – so die hier vertretene
These – dem Erziehungsauftrag nicht diametral entgegen, allerdings ist zu
erwarten, dass das Kopftuch sie daran hindert, Gleichberechtigung im Sinne
des GG überzeugend zu vermitteln: Zwar kann ihr Kopftuch nicht als Zeichen
dafür verstanden werden, dass die Lehrerin sich einem Mann unterordnet;
durchaus kann sie Schülerinnen dazu erziehen, ihre Bildungschancen wahr-
zunehmen und einen Beruf zu ergreifen. Denn sie selbst zeigt durch ihre
Persönlichkeit, dass sie als Frau in die Berufswelt eintritt und damit eine
traditionell männliche Rolle wahrnimmt. Zugleich trägt sie aber das Kopftuch
als Ausdruck einer klassischen Einteilung in Geschlechterrollen. Damit un-
terscheidet sie sich zwar auf den ersten Blick nicht von Lehrerinnen, die zum
Beispiel Röcke tragen – ein Kleidungsstück, das in Deutschland üblicher-
weise nur von Frauen getragen wird. Ein Unterschied liegt aber darin, dass
das Tragen des Rocks gesellschaftliche Gewohnheit ist, die jede Frau in den
meisten Kontexten, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, ablegen kann.30
Das Tragen des Kopftuchs ist demgegenüber in bestimmten islamisch ge-
prägten Kontexten eine religiöse Pflicht, von der Frauen sich zum Teil nur
unter Schwierigkeiten lösen können. Die Frau kann in diesen Kontexten nur
dann einen Beruf ergreifen, wenn sie das Kopftuch trägt und damit die männ-
lichen Erwartungen an die weibliche Rolle erfüllt. Das ist ein Nachteil zu
Lasten der Frau. Das Kopftuch verweist deshalb viel deutlicher als zum Bei-
29 Menschen, die ihre Geschlechtsidentität keiner medizinischen oder juristischen
Definition unterordnen wollen, finden sich seit Anfang der 1990er Jahre unter
dem Begriff ›Transgender‹ zusammen.
30 Wenngleich sicherlich der Dresscode einiger Unternehmen Frauen vorschreibt,
ein Kostüm zu tragen.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik