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DER KOPFTUCHSTREIT ZWISCHEN FEMINISMUS UND MULTIKULTURALISMUS
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tion entspringenden Gründe für das Kopftuchtragen aus mancher feminis-
tischen Perspektive erscheinen mögen, ist es doch eine absurde Anmaßung,
die religiös motivierte Praxis des Kopftuchtragens als an sich inakzeptable
Lebensoption darzustellen. Es gibt eben unterschiedliche Kulturen des Um-
gangs mit Geschlecht und Sexualität, von denen keine für sich beanspruchen
kann, die einzig mögliche, richtige oder Glück bringende zu sein. Dass
manche dieser Optionen bzw. die Art, wie sie propagiert werden, kritikwürdig
sind, ändert nichts an diesem Befund. Solange eine Option nicht eine gravie-
rende Gefährdung grundlegender Rechtsgüter darstellt, kann sie nicht als an
sich inadäquat angesehen werden.16
Allenfalls kann überlegt werden, ob in verschiedenen Kontexten Rege-
lungen legitim sein können. Zu denken wäre etwa an Bekleidungsvorschriften
beim Betreten von sakralen Orten oder beim Ausüben von staatlichen Funk-
tionen (siehe auch Wiese in diesem Band). Für etwaige Restriktionen bedarf
es jedenfalls guter Gründe, die nicht bloß auf Unterstellungen oder Mutma-
ßungen beruhen dürfen. Dazu gehört etwa die Vorstellung, die sich in legis-
lativen Stellungnahmen, Gerichtsurteilen oder Kommentaren findet, durch das
religiös motivierte Tragen eines Kopftuchs bringe eine Frau jedenfalls zum
Ausdruck, dass sie die westliche Gesellschaft ablehnt und mit einem um-
stürzlerischen politischen Islam sympathisiert (siehe auch Barskanmaz, Berg-
hahn, Ekardt, Ladwig, Monjezi Brown und Sacksofsky in diesem Band).
Geistige und emotionale Fähigkeiten
Die zweite Bedingung der ›Autonomie‹ betrifft die persönlichen intellek-
tuellen und emotionalen Fähigkeiten, vorhandene Optionen wahrzunehmen,
zu reflektieren und sie in der Folge anzunehmen oder zu verwerfen. Diese
Vorgabe bedeutet keinesfalls, dass nur Intellektuelle autonom sein könnten.
Wir sind bereits auf Grund unseres Bewusstseins regelrecht in die Kapazität
zur Wahrnehmung hineingeworfen und können im Grunde gar nicht anders,
als uns in Situationen bewusst vorzufinden und reflektierend Entscheidungen
zu treffen. Wesentlich an dieser Bedingung ist auch die Tatsache, dass solche
Fähigkeiten nicht einfach da oder nicht da sind, sondern dass die Gesellschaft
dazu aufgerufen ist, die Umstände für ihre Kultivierung möglichst optimal zu
gestalten. Bildung im Sinne von Wissensvermittlung gehört hier ebenso dazu
wie die Ausbildung eines hinreichenden Selbstvertrauens als Voraussetzung
16 Für eine subtile Analyse der Problematik von FGC im Spannungsfeld von ge-
sundheitlicher Beeinträchtigung und ›Autonomie‹ siehe Meyers 2000. Im Übri-
gen lässt unsere Gesellschaft bisweilen hochgradig selbst- und fremd-
gefährdendes Verhalten wie Rauchen und den Konsum von Alkohol unter dem
Titel der persönlichen Freiheit ohne größere Einschränkungen zu.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik